Genauer gesagt, sie betraten den inneren Markt. Er war fast so groß wie der äußere, doch damit hörten die Ähnlichkeiten schon auf, denn statt Fleisch und Nahrungsmittel, Stoffballen und Nutzholz wurden auf dem inneren Markt fertige Waren verkauft: Feingebäck und Eiscreme, Gewürze und Kräuter; Möbel und Betten, Vorhänge und Gobelins; feine Hemden und Hosen, Sandalen für die Füße, Handschuhe für die Hände und Ringe für Zehen und Ohren und Finger; und exotischen Tand und Tiere und Pflanzen, die mit großen Kosten und hohen Risiken aus allen Ecken der Welt hierher gebracht worden waren. Hier bot Vater seine wertvollsten Pflanzen an, hier hielt er seine Stände Tag und Nacht geöffnet.
Doch keine der Buden übte einen besonderen Reiz auf Nafai aus – für ihn war es immer dasselbe, nachdem er schon seit so vielen Jahren mit so wenig Geld über den Markt ging. Ihn interessierten nur die vielen Buden, die Mjachiken verkauften, die kleinen Glaskugeln, in denen Musik, Tänze, Skulpturen und Gemälde gespeichert waren; Tragödien, Komödien und Tatsachenberichte, die entweder als Gedichte vorgetragen, als Schauspiele aufgeführt oder als Opern gesungen wurden; und die Werke von Historikern, Gelehrten, Philosophen, Oratoren, Propheten und Satirikern; Lektionen und Vorführungen einer jeden Kunst oder eines je gedachten Gedankengangs; und natürlich die großen Liebeslieder, für die Basilika auf der ganzen Welt bekannt war, die Musik mit wortlosen erotischen Spielen kombinierten, die niemals aufhörten, die sich endlos und zufällig wiederholten, wie die selbsterschaffenden Skulpturen in den Schlafzimmern und Privatgärten eines jeden Haushalts der Stadt.
Natürlich war Nafai zu jung, um selbst Liebeslieder kaufen zu können, doch er hatte schon mehr als eins davon gesehen, wenn er Freunde besuchte, deren Mütter oder Lehrerinnen nicht so diskret waren wie Rasa. Sie faszinierten ihn, gleichermaßen wegen der Musik, der angedeuteten Geschichte und der Erotik. Doch er verbrachte seine Zeit auf dem Markt mit der Suche nach neuen Werken basilikanischer Dichter, Musiker, Künstler und Darsteller, oder alten, die gerade neu aufgelegt wurden, oder seltsamen Werken aus anderen Ländern, entweder in der Übersetzung oder im Original. Vater mochte seine Söhne knapp halten, doch Mutter gab all ihren Kindern – Söhnen und Nichten nicht mehr und nicht weniger als bloßen Schülern – ein anständiges Taschengeld für den Erwerb von Mjachiken.
Nafai ertappte sich, wie er zu einer Bude wanderte, in der ein junger Mann mit einer überaus hohen und schönen Tenorstimme sang; die Melodie klang ganz so, als könne es ein neues Lied der Komponistin sein, die sich Sonnenaufgang nannte – oder zumindest einer ihrer besseren Imitatorinnen.
»Nein«, sagte Issib. »Du kannst dich heute nachmittag hier umsehen.«
»Geh doch schon vor«, sagte Issib.
»Wir kommen sowieso schon zu spät.«
»Dann kann ich ja ruhig noch später kommen.«
»Werde endlich erwachsen, Nafai«, sagte Issib. »Jede Lektion, die du verpaßt, wird entweder dich oder die Lehrerin später in Schwierigkeiten bringen.«
»Ich lerne sowieso nie etwas«, sagte Nafai. »Ich will das Lied hören.«
»Dann hör zu, während du gehst. Oder kannst du nicht gleichzeitig gehen und zuhören?«
Nafai ließ sich vom Markt führen. Das Lied verklang schnell, verlor sich in der Musik aus anderen Buden und dem Geplauder und den Gesprächen des Marktes. Im Gegensatz zum äußeren Markt wartete der innere nicht auf die Bauern von der Ebene und schloß deshalb niemals; die Hälfte der Leute hier, da war sich Nafai sicher, hatten in der vergangenen Nacht nicht geschlafen und kauften sich Gebäck und Tee zum Frühstück, bevor sie nach Hause und zu Bett gingen. Meb mochte einer davon sein. Und einen Augenblick lang neidete Nafai ihm die Freiheiten seines Lebens. Werde ich solche Freiheiten haben, falls ich einmal ein großer Historiker oder Wissenschaftler sein sollte? Kann ich dann am Nachmittag aufstehen, bis zur Abenddämmerung schreiben und mich dann in die Nächte Basilikas wagen, um die Tänze und Spiele zu sehen, die Konzerte zu hören oder vielleicht Abschnitte der Werke vorzulesen, die ich an diesem Tag geschrieben habe, vor einem empfindsamen Publikum, das mit Diskussionen und Gegenreden, mit Lob und Kritik darauf reagieren wird – wie könnte man Elemaks schmutzige, ermüdende Reisen jemals mit solch einem Leben vergleichen? Und in der Morgendämmerung würde ich dann zu Eiadhs Haus zurückkehren und mit ihr schlafen, und danach flüstern und lachen wir über die Abenteuer und Triumphe der vergangenen Nacht.
Nur ein paar Dinge fehlten, um diesen Traum zur Wirklichkeit werden zu lassen. Zum einen hatte Eiadh noch kein Haus, und obwohl sie sich schon eine gewisse Reputation als Sängerin und Rezitatorin gemacht hatte, war klar, daß ihre Karriere alles andere als brillant verlaufen würde; sie war kein Wunderkind, und so würde ihr Haus zweifellos viele Jahre lang bescheiden bleiben. Ganz egal, ich werde ihr helfen, ein schöneres zu kaufen, als sie allein es sich leisten könnte, auch wenn das Geld nur zum Geschenk gemacht werden kann, wenn ein Mann einer Frau hilft, in Basilika Besitz zu erwerben. Eiadh ist eine zu treue Frau, um jemals meinen Vertrag verfallen zu lassen und mich aus dem Haus zu werfen, das zu bauen ich ihr geholfen habe.
Zum anderen hatte Nafai noch nie etwas geschrieben, das besonders gut geraten war. Natürlich lag dies nur daran, weil er sich noch nicht für ein bestimmtes Gebiet entschieden hatte und sich daher noch immer auf die Probe stellte. Doch schon sehr bald würde er sich für ein Gebiet entscheiden, es mußte eins geben, auf dem er ein gewisses Flair hatte, und dann würde es in den Buden auf dem inneren Markt Mjachiken seiner Werke geben.
Auf der Heiligen Straße zog irgendeine Prozession zum Spaltental hinab, und daher mußten sie – als Männer – sie umgehen; dennoch hatten sie ziemlich bald Mutters Haus erreicht. Issib ließ ihn augenblicklich stehen und trieb zur Außentreppe, die zum Computerraum hinaufführte, in dem er dieser Tage seine gesamte Zeit verbrachte. Die nächst jüngere Klasse hatte sich schon in der Südkurve der Säulenveranda zusammengefunden und genoß dort das einfallende Sonnenlicht. Sie übten sich in der Hingabe; die Jungen schlugen sich dann und wann scharf auf die Schenkel, die Mädchen summten leise vor sich hin. Seine Klasse würde irgendwo im Gebäude dasselbe tun, und Nafai hatte es nicht eilig, sich zu ihr zu gesellen, da es als ziemlich pietätlos galt, eine solche Andacht zu stören.
Also ging er langsam weiter, wich der jüngeren Klasse auf der Veranda aus, lehnte sich, als er außer Sichtweite war, gegen eine Säule und lauschte dem angenehmen Klang der Mädchenstimmen, die wie zufällig summten und doch gelegentlich Akkorde fanden, die sich schon in dem Augenblick, da sie entdeckt wurden, wieder verloren.
Als er dort stand, tauchte plötzlich ein Mädchen aus dieser Klasse neben ihm auf. Er kannte es natürlich aus der Turnhalle. Es war die kleine Hexe namens Luet, von der man munkelte, sie habe so bemerkenswerte Visionen, daß einige der Damen vom Riff sie schon Seherin nannten. Nafai schenkte solchen Zaubergeschichten keinen großen Glauben – die Überseele konnte die Zukunft genausowenig wie irgendein Mensch kennen, und was diese Visionen betraf, erinnerten sich die Menschen nur an die, die durch schieres Glück eines Tages zufällig Wirklichkeit wurden.
»Du bist derjenige, der mit Feuer bedeckt ist«, sagte die Kleine.
Wovon sprach sie? Was sollte er auf so einen Satz antworten?
»Nein, ich bin Nafai«, sagte er.
»Eigentlich kein echtes Feuer. Kleine Diamantenfunken, die zu Blitzen werden, wenn du wütend wirst.«
»Ich muß ins Haus.«
Sie berührte seinen Ärmel; mit dieser Geste hielt sie ihn fest, als habe sie seinen Arm gepackt. »Weißt du, sie wird sich niemals mit dir vereinen.«