»Wer?«
»Eiadh. Sie wird es dir anbieten, aber du wirst sie zurückweisen.«
Das war erniedrigend. Wie konnte dieses Mädchen, das wahrscheinlich erst zwölf Jahre alt und von ihrer Größe und ihren Formen her eindeutig noch keine junge Frau war, irgend etwas von den Gefühlen wissen, die er Eiadh entgegenbrachte? War seine Liebe für alle anderen so offensichtlich? Na schön, so sei es – er hatte nichts zu verbergen. Es galt lediglich als ehrenhaft, wenn bekannt wurde, daß man solch eine Frau liebte. Und was die Behauptung betraf, daß dieses Mädchen eine Seherin war, so war sie wahrscheinlich wohl falsch, zumindest, wenn sie behauptete, Eiadh würde sich ihm tatsächlich anbieten, und er würde sie abweisen. Da ist es schon wahrscheinlicher, daß ich mir einen Finger abbeiße, als mich zu weigern, die perfekteste Frau in Basilika zur Gefährtin zu nehmen.
»Entschuldige mich«, sagte Nafai und zog seinen Arm zurück. Er mochte sowieso nicht, daß dieses Mädchen ihn anfaßte. Es hieß, ihre Mutter sei eine Wilde, eine dieser schmutzigen, nackten, allein lebenden Frauen, die aus der Wüste nach Basilika kamen; angeblich waren sie heilige Frauen, doch Nafai wußte sehr wohl, daß sie mit jedem Mann schliefen, der es verlangte; und es war erlaubt, daß ein Mann sie nahm, auch wenn er einen Vertrag mit einer Gefährtin hatte. Anständige und hochgeborene Männer taten so etwas natürlich nicht – nicht einmal Meb hatte sich je einer ›Wüstenanbetung‹ oder einer ›Staubparty‹ gebrüstet, wie die Kopulationen mit diesen Wilden im Volksmund genannt wurden. Nafai sah nichts Heiliges an der Sache, und was ihn betraf, war diese Luet ein Bastard, empfangen von einer Verrückten und gezeugt von einem tierischen Mann bei einer Vereinigung, die mehr mit Vergewaltigung als mit Liebe zu tun hatte. Es bestand nicht die geringste Aussicht, daß die Überseele damit etwas zu tun hatte.
»Du bist der Bastard«, sagte das Mädchen. Dann ging es davon. Die anderen hatten ihre Andacht beendet – oder sie vielleicht einfach unterbrochen, um zu hören, was Luet zu ihm sagte. Was bedeutete, daß die Geschichte bis zur Mittagszeit im ganzen Haus und bis zum Abendessen in ganz Basilika herumgetrascht worden war. Nafai wünschte sich, daß die Frauen Basilikas Verrückte wie Luet hinter Schloß und Riegel halten würden, anstatt ihren dummen Unsinn ständig ernst zu nehmen.
3
Feuer
Nachdem er das Haus betreten hatte, ging er zum Brunnenzimmer, in dem sich seine Klasse den ganzen Herbst über versammelte. Aus der Küche zogen die Düfte des Mittagessens herüber, und mit einem plötzlichem Schmerz fiel ihm ein, daß er wegen seines Streits mit Elemak völlig vergessen hatte, etwas zu essen. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht den geringsten Hunger verspürt; doch nun, da er daran erinnert wurde, empfand er vor Hunger Bauchschmerzen. Ihm war sogar etwas schummrig im Kopf. Er sollte sich setzten. Das Brunnenzimmer befand sich nur ein paar Schritte entfernt; sicher würden sie verstehen, weshalb er zu spät kam, wenn er sich so schlecht fühlte. Niemand konnte dann wütend auf ihn sein. Wenn er krank war, konnte niemand ihn für einen faulen Drückeberger halten. Sie mußten ja nicht wissen, daß er krank vor Hunger war.
Er schlurfte elendig hinein, spielte seine Schwäche bis zum Äußersten aus und lehnte sich einen Augenblick lang gegen die Wand. Er fühlte ihre Blicke auf sich, sah aber nicht hin; er hatte die verschwommene Vorstellung, daß wirklich kranke Menschen die Blicke anderer Leute nicht so einfach erwiderten. Er rechnete damit, daß die Lehrerin des heutigen Tages etwas zu ihm sagte. Was ist los, Nafai? Fühlst du dich nicht wohl?
Statt dessen dehnte sich ein Schweigen aus, bis er die Wand hinabgerutscht war und auf dem Holzboden eine sitzende Position eingenommen hatte.
»Wir schicken sofort nach den Totengräbern, Nafai, für den Fall, daß du plötzlich sterben solltest.«
O nein! Es war gar keine Lehrerin, keine der leicht zu täuschenden jungen Frauen, die so beeindruckt davon waren, daß Nafai Rasas Sohn war. Heute unterrichtete Mutter hier. Er sah auf und begegnete ihrem Blick. Sie lächelte ihn böse an, hatte sich von seiner Schauspielerei kein bißchen täuschen lassen.
»Ich habe auf dich gewartet. Issib ist schon in meinem Säulengang. Er hat mit keiner Silbe erwähnt, daß du im Sterben liegst, aber ich bin sicher, es war nur ein Versehen.«
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Sache mit Humor zu nehmen. Nafai seufzte und stand auf. »Weißt du, Mutter, deine Unwilligkeit, deine Skepsis zu unterdrücken, wirft meine Laufbahn als Schauspieler um Jahre zurück.«
»Mach dir darüber keine Gedanken, lieber Nafai. Deine Laufbahn als Schauspieler würde das basilikanische Theater um Jahrhunderte zurückwerfen.«
Die anderen Schüler lachten. Nafai grinste – aber er musterte auch die Klasse, um zu sehen, wer den größten Spaß daran hatte. Eiadh saß neben dem Brunnen, und ein paar winzige Wassertropfen hatten sich in ihrem Haar verfangen und reflektierten das Licht nun wie Juwelen. Sie lachte ihn nicht aus. Statt dessen lächelte sie wunderschön und blinzelte ihm zu. Er grinste zurück – wie ein Narr, da war er sich sicher – und wäre fast über die Stufe gestolpert, die zur Schwelle des hinteren Gangs hinaufführte. Natürlich lachten die anderen erneut, und Nafai drehte sich um und verbeugte sich tief. Dann schritt er würdevoll davon und prallte absichtlich gegen den Türrahmen, um die Klasse noch einmal zum Wiehern zu bringen, bevor er den Raum schließlich verließ.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte er Mutter und sputete sich, um sie einzuholen.
»Familienangelegenheiten«, sagte sie.
Dann gingen sie durch die Tür, die zu Mutters Privatsäulengang führte. Sie blieben wie immer in dem abgeschirmten Teil neben der Tür. Hinter dem Wandschirm, an der Balustrade, bot der Säulengang einen wunderbaren Blick auf das Spaltental, und daher war es Männern streng verboten, ihn überhaupt zu betreten. In Privathäusern wurden diese Vorschriften oft ignoriert – Nafai kannte mehrere Jungen, die über das Spaltental sprachen und ihm versichert hatten, es böte gar keinen besonderen Anblick, sondern wäre nur ein steiler, zerklüfteter Hang, bedeckt mit Bäumen und Büschen, und stets würden Nebel oder Wolken oder Dunst verhindern, daß man die Mitte des Tals sehen könne, wo sich angeblich der heilige See befand. Doch in Mutters Haus erwies man den Bräuchen stets den gebührenden Respekt, und Nafai war sicher, daß nicht einmal Vater je hinter den Wandschirm getreten war.
Nachdem er ein paarmal geblinzelt hatte, weil er in das helle Sonnenlicht hinausgetreten war, konnte Nafai sehen, wer sich auf dem Säulengang befand. Issib natürlich; doch zu Nafais Überraschung war auch Vater dort, der von seiner Reise zurückgekehrt war. Warum hatte er zuerst Rasas Haus in der Stadt aufgesucht, statt nach Hause zu kommen?
Vater erhob sich und begrüßte ihn mit einer Umarmung.
»Elemak ist zu Hause, Vater.«
»Das hat Issja mir schon gesagt.«
Vater schien sehr ernst, sehr gedankenverloren zu sein. Ihn beschäftigte etwas. Es konnte nichts Gutes sein.
»Nun, da Nafai endlich hier ist«, sagte Mutter, »können wir vielleicht etwas Sinn in die ganze Sache bringen.«
Erst jetzt, als er sich auf den schattigsten Stuhl setzte, der noch frei war, bemerkte Nafai, daß zwei Mädchen bei ihnen waren. Auf den ersten Blick hatte er im grellen Sonnenlicht angenommen, es handele sich um seine Schwestern, um Rasas Töchter Sevet und Kokor – er hatte sich schon gefragt, was Vater dann bei dieser Familienzusammenkunft zu suchen hatte, da er nur Issibs und Nafais Vater war, nicht aber der Vater der Mädchen. Doch es waren zwei Schülerinnen – Huschidh, eine von Mutters Nichten, die im selben Alter wie Eiadh war; und diese Hexe Luet. Er sah sie konsterniert an – wie war sie nur so schnell hierher gekommen? Andererseits hatte er sich ja nicht besonders beeilt. Mutter mußte nach ihr geschickt haben, noch bevor sie wußte, daß Nafai endlich hier war.