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Warum?

Der Pastor bat um Verzeihung. Er habe wohl falsch verstanden.

Nichts, sagte Gauß, gar nichts.

Doch, sagte der Pastor, er wolle das hören.

Er meine es rein theologisch, sagte Gauß. Gott habe einen geschaffen, wie man sei, dann aber solle man sich ständig bei ihm dafür entschuldigen. Logisch sei das nicht.

Der Pastor äußerte die Vermutung, daß etwas mit seinen Ohren nicht stimme.

Gauß holte ein sehr schmutziges Taschentuch hervor und schneuzte sich. Er sei überzeugt, daß er etwas miß-

verstehe, aber ihm erscheine das wie eine mutwillige Ver-kehrung von Ursache und Wirkung.

Bartels besorgte ihm einen neuen Freitisch bei Hofrat Zimmermann, einem Professor an der Göttinger Universität. Zimmermann war hager und leutselig, betrachtete ihn nie ohne eine höfliche Furcht und nahm ihn mit zu einer Audienz beim Herzog von Braunschweig.

Der Herzog, ein freundlicher Herr mit zuckenden Augenlidern, erwartete sie in einem goldgeschmückten Raum, in dem so viele Kerzen brannten, daß es keine Schatten gab, nur Reflexionen in den Deckenspiegeln, die einen zweiten, gleichsam umgefalteten Raum über ihren Köpfen schweben ließen. Das sei also das kleine Genie?

Gauß machte die Verbeugung, die man ihm beigebracht hatte. Er wußte, daß es bald keine Herzöge mehr geben würde. Dann würde man von absoluten Herr-schern nur mehr in Büchern lesen, und der Gedanke, vor einem zu stehen, sich zu verneigen und auf sein Macht-wort zu warten, käme jedem Menschen fremd und mär-chenhaft vor.

Rechne was, sagte der Herzog.

Gauß hustete, ihm war heiß und schwindlig. Die Kerzen verbrauchten fast die gesamte Luft. Er sah in die Flammen, und plötzlich wurde ihm klar, daß Professor Lichtenberg unrecht hatte und die Phlogistonhypothese unnötig war. Es war kein Lichtstoff, der brannte, sondern die Luft selbst.

Mit Verlaub, sagte Zimmermann, da liege ein Mißverständnis vor. Der junge Mann sei kein Rechenkünstler.

Im Gegenteil, er sei nicht einmal sehr gut im Rechnen.

Doch Mathematik habe, wie Seine Hoheit natürlich wisse, nichts mit Additionskunst zu tun. Vor zwei Wochen habe der Junge, ganz auf sich gestellt, Bodes Gesetz der Planetenentfernungen abgeleitet, danach zwei ihm unbekannte Theoreme Eulers neu entdeckt. Auch zur kalen-darischen Arithmetik habe er Erstaunliches beigetragen: Seine Formel zur Berechnung des Osterdatums finde mittlerweile in ganz Deutschland Verwendung. Seine Leistungen in der Geometrie seien außerordentlich. Einiges sei bereits publiziert, wenn auch natürlich unter dem Namen des einen oder anderen Lehrers, da man den Knaben nicht der Verderblichkeit frühen Ruhmes ausset-zen wolle.

Er interessiere sich mehr fürs Lateinische, sagte Gauß heiser. Auch könne er Dutzende Balladen.

Der Herzog fragte, ob da jemand geredet habe.

Zimmermann stieß Gauß in die Rippen. Er bitte um Entschuldigung, der junge Mann stamme aus groben Verhältnissen, sein Benehmen lasse noch zu wünschen übrig. Doch er verbürge sich dafür, daß nur ein Stipendium des Hofes zwischen ihm und jenen Leistungen stehe, welche den Ruhm des Vaterlandes mehren würden.

Also werde jetzt nichts gerechnet, fragte der Herzog.

Leider nein, sagte Zimmermann.

Na ja, sagte der Herzog enttäuscht. Dann solle er das Stipendium trotzdem haben. Und wiederkommen, wenn er etwas vorzeigen könne. Er sei sehr für die Wissenschaft.

Sein liebster Patensohn, der kleine Alexander, sei eben aufgebrochen, um in Südamerika Blumen zu suchen.

Vielleicht züchte man hier ja noch so einen Kerl! Er machte eine entlassende Handbewegung, und wie sie es geübt hatten, gingen Zimmermann und Gauß unter Verbeugungen rückwärts durch die Tür.

Bald darauf kam Pilâtre de Rozier in die Stadt. Gemeinsam mit dem Marquis d’Arland war er in einem Korb, welchen die Montgolfiers an einem mit Heißluft gefüllten Beutel befestigt hatten, fünfeinhalb Meilen über Paris geflogen. Nach der Landung hatten, so hieß es, zwei Männer den Marquis stützen und wegführen müssen, er habe Unsinn geredet und behauptet, geflügelte Licht-wesen mit Frauenbüsten und Vogelschnäbeln hätten sie umflogen. Erst nach Stunden hatte er sich beruhigt und alles auf die Überreizung seiner Nerven geschoben. Pilâ-

tre dagegen war gefaßt geblieben und hatte auf alle Fragen geantwortet. So besonders sei es nicht gewesen; man meine, am gleichen Ort zu bleiben, während der Erdboden unter einem in die Tiefe sinke. Doch das verstehe nur, wer es erlebt habe. Jeder andere müsse es entweder für größer oder für gewöhnlicher halten, als es sei.

Pilâtre war mit eigenem Fluggerät und zwei Assistenten auf dem Weg nach Stockholm. Er hatte in einem der billigeren Gasthöfe übernachtet und wollte eben weiter-ziehen, als der Herzog ihn um eine Vorführung bitten ließ.

Pilâtre sagte, das sei aufwendig und komme ihm nicht gelegen.

Der Bote gab zu bedenken, daß der Herzog es nicht gewohnt sei, seine Gastfreundschaft mit Grobheit erwidert zu sehen.

Welche Gastfreundschaft, fragte Pilâtre. Er habe für seine Unterkunft bezahlt, und allein die Vorbereitung des Ballons würde ihn zwei Reisetage kosten.

Vielleicht könne man in Frankreich so mit der Obrigkeit sprechen, sagte der Bote, dort sei ja allerhand möglich. In Braunschweig aber solle er sich gut überlegen, ihn mit solch einer Antwort zurückzusenden.

Pilâtre fügte sich. Er hätte es wissen müssen, sagte er müde, in Hannover sei das gleiche passiert, in Bayern ebenso. Er werde also in Christi Namen morgen nachmittag vor den Toren dieser dreckigen Stadt in die Luft: steigen.

Am nächsten Morgen klopfte jemand an seine Tür. Ein Junge stand draußen, sah mit aufmerksamen Augen zu ihm auf und fragte, ob er mitfliegen dürfe.

Mitfahren, sagte Pilâtre. Mit dem Ballon fahre man.

Man sage nicht fliegen, sondern fahren. So sei es Sitte unter Ballonleuten.

Welchen Ballonleuten?

Er sei der erste, sagte Pilâtre, und er habe es so verfügt.

Und nein, natürlich könne keiner mitfahren. Er tätschelte ihm die Wange und wollte die Tür schließen.

Das sei sonst nicht seine Art, sagte der Junge und wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab. Aber sein Name sei Gauß, er sei nicht unbekannt, und in Kürze werde er so große Entdeckungen machen wie Isaac Newton. Das sage er nicht aus Eitelkeit, sondern weil die Zeit knapp und es nötig sei, daß er an dem Flug teilnehme.

Man sehe doch die Sterne von da oben besser, nicht wahr? Klarer und nicht verschleiert vom Dunst?

Darauf könne er wetten, sagte Pilâtre.

Deshalb müsse er mir. Er wisse viel über Sterne. Man könne ihn der schärfsten Prüfung unterziehen.

Pilâtre lachte und fragte, wer einem kleinen Mann denn beibringe, so schön zu reden. Er überlegte eine Weile. Na gut, sagte er schließlich, wenn es um die Sterne gehe!

Am Nachmittag, vor einer Menschenmenge, dem Herzog und dem salutierenden Gardebataillon, füllte ein Feuer durch zwei Schläuche den Pergamentbeutel allmählich mit Hitze. Niemand hatte erwartet, daß es so lange dauern würde. Die Hälfte der Zuschauer war bereits gegangen, als der Ballon sich rundete, und kaum ein Viertel war noch da, als er zu steigen begann und zögernd vom Boden abhob. Die Seile strafften sich, Pilâtres Assistenten lösten die Schläuche, der kleine Korb ruckte, und Gauß, der vor sich hin flüsternd auf dem geflochtenen Boden kauerte, wäre schon hochgesprungen, hätte Pilâtre ihn nicht hinuntergedrückt.

Noch nicht, keuchte er. Betest du?

Nein, flüsterte Gauß, er zähle Primzahlen, das mache er immer, wenn er nervös sei.

Pilâtre hob den Daumen, um die Windrichtung zu prüfen. Der Ballon würde steigen, dann treiben, wohin der Wind wollte, dann wieder sinken, wenn die Luft in ihm abkühlte. Eine Möwe schrie ganz nahe am Korb.

Noch nicht, rief Pilâtre, noch nicht. Noch nicht. Jetzt!

Und halb am Kragen, halb an den Haaren riß er Gauß empor.