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Das in die Ferne gekrümmte Land. Der tiefe Horizont, die Hügelkuppen, halb aufgelöst im Dunst. Die heraufstarrenden Menschen, winzige Gesichter um das noch brennende Feuer, daneben die Dächer der Stadt.

Rauchwölkchen, festgesteckt an Schornsteinen. Ein Weg schlängelte sich durch das Grün, darauf ein insektenklei-ner Esel. Gauß klammerte sich an den Korbrand, und erst als er den Mund zumachte, wurde ihm klar, daß er die ganze Zeit geschrien hatte.

So sieht Gott die Welt, sagte Pilâtre.

Er wollte antworten, aber er hatte keine Stimme mehr.

Mit welcher Kraft die Luft sie schüttelte! Und die Sonne – warum so viel heller hier oben? Seine Augen taten weh, aber er konnte sie nicht schließen. Und der Raum selbst: eine Gerade von jedem Punkt zu jedem, von diesem Dach zu dieser Wolke, zur Sonne, zum Dach zu-rück. Aus Punkten Linien, aus Linien Flächen und aus Flächen Körper, doch damit war es nicht getan. Seine feine Biegung, von hier oben war sie fast zu sehen. Er spürte Pilâtres Hand auf seiner Schulter. Nie mehr hinab. Hinauf und weiter hinauf, bis kein Land mehr unter ihnen wäre. Eines Tages würden das Menschen erleben.

Dann würde jeder fliegen, als wäre es normal, aber dann würde er tot sein. Er spähte aufgeregt in die Sonne, das Licht veränderte sich. Die Dämmerung schien wie Nebel in den noch hellen Himmel zu steigen. Ein paar letzte Flammen, das Rot am Horizont, dann keine Sonne mehr, dann die Sterne. Drunten ging es nie so schnell.

Wir sinken schon, sagte Pilâtre.

Nein, bettelte er, noch nicht! So viele von ihnen, und jede Minute mehr. Jeder eine sterbende Sonne. Jeder verging, und alle folgten ihren Bahnen, und wie es Formeln gab für jeden Planeten, der um eine Sonne, und jeden Mond, der um einen Planeten kreiste, gab es auch eine Formel, unendlich kompliziert wohl, aber vielleicht auch nicht, womöglich versteckt in ihrer eigenen Einfachheit, die all diese Bewegungen beschrieb, jede Drehung jedes einzelnen um jeden; vielleicht mußte man nur lange genug schauen. Seine Augen schmerzten. Ihm war, als hätte er seit langem nicht geblinzelt.

Gleich sind wir unten, sagte Pilâtre.

Noch nicht! Er stellte sich auf die Zehenspitzen, als könnte das helfen, starrte hinauf, begriff zum erstenmal, was Bewegung war, was ein Körper, was vor allem der Raum, den sie zwischen sich aufspannten und der sie alle, auch ihn, Pilâtre und diesen Korb, umfaßt hielt. Der Raum, der –

Sie krachten in das Holzgestell eines Heustapels, ein Seil riß, der Korb kippte, Gauß rollte in eine Lehmpfüt-ze, Pilâtre fiel unglücklich, verstauchte sich den Arm und stieß, als er den Riß in der Pergamenthaut sah, so unselige Flüche aus, daß der von seinem Haus herbeilaufende Bauer stehenblieb und drohend seinen Spaten aufhob.

Atemlos kamen die Assistenten und falteten den zerknit-ternden Ballon zusammen. Pilâtre hielt sich den Arm und gab Gauß einen schmerzhaft festen Klaps.

Er wisse es jetzt, sagte Gauß.

Na was denn?

Daß alle parallelen Linien einander berührten.

Fein, sagte Pilâtre.

Sein Herz raste. Er überlegte, ob er dem Mann erklä-

ren sollte, daß er nur ein geschwungenes Ruder am Korb anbringen mußte, um den Luftstrom umzulenken und den Ballon in eine bestimmte Richtung zu zwingen. Aber dann schwieg er. Er war nicht gefragt worden, und es war nicht höflich, den Leuten Ideen aufzudrängen. Es lag so nahe, daß es bald einem anderen einfallen würde.

Jetzt aber wollte dieser Mann ein dankbares Kind sehen.

Mît Mühe brachte Gauß ein Lächeln auf sein Gesicht, breitete die Arme aus und verneigte sich wie eine Marionette. Pilâtre freute sich, lachte und strich ihm über den Kopf.

Die

Höhle

Nach einem halben Jahr in Neuandalusien hatte Humboldt alles untersucht, was nicht Füße und Angst genug hatte, ihm davonzulaufen. Er hatte die Farbe des Himmels, die Temperatur der Blitze und die Schwere des nächtlichen Rauhreifs gemessen, er hatte Vogelkot gekostet, die Erschütterungen der Erde erforscht und war in die Höhle der Toten gestiegen.

Mit Bonpland bewohnte er ein weißes Holzhaus am Rand der erst kürzlich von einem Beben beschädigten Stadt. Noch immer rissen Stöße die Menschen nachts aus dem Schlaf, noch immer hörte man, wenn man sich hin-legte und den Atem anhielt, die Bewegungen tief drun-ten. Humboldt grub Löcher, ließ Thermometer an langen Fäden in Brunnen hinab und legte Erbsen auf Trommel-felle. Das Beben werde gewiß wiederkommen, sagte er fröhlich. Die ganze Stadt liege bald in Trümmern.

Abends aßen sie beim Gouverneur, danach wurde gebadet. Stühle wurden ins Flußwasser gestellt, in leichter Kleidung setzte man sich in die Strömung. Hin und wieder schwammen kleine Krokodile vorbei. Einmal biß ein Fisch dem Neffen des Vizekönigs drei Zehen ab. Der Mann, er hieß Don Oriendo Casaules und hatte einen gewaltigen Schnurrbart, zuckte und starrte ein paar Sekunden reglos vor sich hin, bevor er mehr ungläubig als erschrocken seinen nun unvollständigen Fuß aus dem rot verdunkelten Wasser zog. Er sah mit suchendem Ausdruck um sich, dann sank er zur Seite und wurde von Humboldt aufgefangen. Mit dem nächsten Schiff kehrte er zurück nach Spanien.

Häufig kamen Frauen zu Besuch: Humboldt zählte die Läuse in ihren geflochtenen Haaren. Sie kamen in Gruppen, flüsterten miteinander und kicherten über den kleinen Mann in seiner Uniform mit der im linken Auge festgeklemmten Lupe. Bonpland litt unter ihrer Schönheit. Er fragte, wozu eine Statistik über Läuse gut sei.

Man wolle wissen, sagte Humboldt, weil man wissen wolle. Noch habe niemand das Vorkommen dieser bemerkenswert widerstandsfähigen Tiere auf den Köpfen der Bewohner der Äquinoktialgegenden untersucht.

Nicht weit von ihrem Haus wurden Menschen ver-steigert. Muskulöse Männer und Frauen, Ketten um die Fußgelenke, sahen mit leeren Blicken die Landbesitzer an, welche in ihren Mündern stocherten, ihnen in die Ohren sahen und sich auf die Knie niederließen, um ihre After zu betasten. Sie befühlten ihre Fußsohlen, zogen an ihren Nasen, prüften ihre Haare und befingerten ihr Geschlecht. Meist gingen sie danach, ohne zu kaufen, es war ein schrumpfender Wirtschaftszweig. Humboldt erstand drei Männer und ließ ihnen die Ketten abnehmen. Sie begriffen nicht. Sie seien jetzt frei, ließ Humboldt dolmetschen, sie könnten gehen. Sie stierten ihn an.

Frei! Einer fragte, wohin sie sollten. Wohin ihr wollt, antwortete Humboldt. Er gab ihnen Geld. Zögernd un-tersuchten sie die Münzen mit den Zähnen. Einer setzte sich auf den Boden, schloß die Augen und rührte sich nicht mehr, als gäbe es nichts auf der Welt, das ihn interessieren könnte. Humboldt und Bonpland entfernten sich unter den spöttischen Blicken der Umstehenden. Ein paarmal drehten sie sich um, aber keiner der Freige-lassenen sah ihnen nach. Am Abend begann es zu regnen, in der Nacht erschütterte ein neues Beben die Stadt. Am nächsten Morgen waren die drei verschwunden. Niemand wußte, wohin, und sie tauchten nie mehr auf. Bei der nächsten Versteigerung blieben Humboldt und Bonpland zu Hause, arbeiteten bei geschlossenen Läden und gingen erst hinaus, als es vorbei war.

Die Reise zur Chaymas-Mission führte durch dichten Wald. Bei jedem Schritt sahen sie unbekannte Pflanzen.

Der Boden schien nicht genug Platz zu haben für so viel Bewuchs: Baumstämme preßten sich aneinander, Pflanzen überdeckten andere Pflanzen, Lianen strichen über ihre Schultern und Köpfe. Die Mönche der Mission be-grüßten sie freundlich, obgleich sie nicht verstanden, was die beiden von ihnen wollten. Der Abt schüttelte den Kopf. Dahinter stecke doch anderes! Niemand reise um die halbe Welt, um Land zu vermessen, das ihm nicht gehöre.

In der Mission lebten getaufte Indianer in Selbstver-waltung. Es gab einen indianischen Kommandanten, einen Polizeichef und sogar eine Miliz, und solange sie in allem gehorchten, ließ man sie leben, als wären sie frei.

Sie waren nackt, trugen nur einzelne Kleidungsstücke, die sie sich irgendwo verschafft hatten: einen Hut, einen Strumpf, einen Gürtel, eine auf der Schulter festgesteckte Epaulette. Humboldt brauchte eine Weile, bis er so tun konnte, als hätte er sich daran gewöhnt. Es mißfiel ihm zu sehen, an wie vielen Stellen Frauen behaart waren; das schien ihm unvereinbar mit ihrer natürlichen Würde.