Doch als er eine Bemerkung darüber zu Bonpland machte, sah ihn der so belustigt an, daß er rot wurde und zu stottern anfing.
Unweit der Mission, in der Höhle der Nachtvögel, lebten die Toten. Der alten Legenden wegen weigerten sich die Eingeborenen, sie dorthin zu begleiten. Erst nach langem Zureden kamen zwei Mönche und ein Indianer mit. Es war eine der größten Höhlen des Kontinents, ein sechzig mal neunzig Fuß großes Loch, durch das so viel Licht einfiel, daß man noch im Berginneren hundert-fünfzig Fuß weit auf Gras und unter Baumwipfeln ging.
Dann erst mußten sie Fackeln anzünden. Hier begann auch das Geschrei.
In der Dunkelheit lebten Vögel. Tausende Nester hingen wie Beutel an der Höhlendecke, der Lärm war oh-renbetäubend. Wie sie sich orientierten, wußte niemand.
Bonpland gab drei Schüsse ab, deren Hall vom Schreien übertönt wurde, und schon sammelte er zwei noch zuk-kende Körper ein. Humboldt schlug Gesteinsproben aus dem Fels, maß Temperatur, Luftdruck und Feuchtigkeit und kratzte Moos von der Wand. Ein Mönch schrie auf, als er mit seiner Sandale eine riesige Nacktschnecke zer-quetschte. Sie mußten durch einen Bach waten, die Vögel flatterten um ihre Köpfe, Humboldt preßte die Hände auf seine Ohren, die Mönche schlugen das Kreuz.
Hier, sagte der Führer, beginne das Totenreich. Er gehe nicht weiter.
Humboldt bot eine Verdoppelung des Lohnes an.
Der Führer lehnte ab. Dieser Platz sei nicht gut! Und überhaupt, was habe man hier zu suchen, der Mensch gehöre ans Licht.
Schön gesagt, brüllte Bonpland.
Licht, rief Humboldt, das sei nicht Helligkeit, sondern Wissen!
Er ging weiter, Bonpland und die Mönche folgten. Der Gang verzweigte sich, ohne Führer wußten sie nicht, wohin. Humboldt schlug vor, steh zu trennen. Bonpland und die Mönche schüttelten die Köpfe.
Dann eben links, sagte Humboldt.
Wieso links, fragte Bonpland.
Also rechts, sagte Humboldt.
Aber warum rechts?
Zum Teufel, rief Humboldt, jetzt werde es ihm zu blöd. Und er ging, den anderen voraus, nach links. Das Vogelgeschrei hallte hier unten noch lauter. Nach einer Weile erkannte man darin hohe, klickende Laute, sehr schnell hintereinander ausgestoßen. Humboldt kniete sich hin und untetsuchte die verkümmerten Pflanzen auf dem Boden. Aufgedunsene Gewächse ohne Farbe, fast formlos. Interessant, brüllte er in Bonplands Ohr, genau darüber habe er in Freiberg eine Arbeit verfaßt!
Als die beiden aufsahen, bemerkten sie, daß die Mönche nicht mehr da waren.
Abergläubische Tölpel, rief Humboldt. Weiter!
Es ging steil bergab. Um sie knatterten Flügelschläge, doch nie streifte sie eines der Tiere. Sie tasteten sich an der Wand entlang zu einem Felsdom. Die Fackeln, zu schwach, um das Gewölbe auszuleuchten, warfen ihre Schatten übergroß an die Wände. Humboldt sah auf das Thermometer: Es werde immer wärmer, er bezweifle, dass Professor Werner daran Freude hätte! Dann sah er die Gestalt seiner Mutter neben sich. Er blinzelte, doch sie blieb länger sichtbar, als es sich für eine Sinnestäuschung gehörte. Den Umhang unter dem Hals festgeknotet, den Kopf schief gelegt, geistesabwesend lächelnd, Kinn und Nase so dünn wie an ihrem letzten Tag, in den Händen einen verbogenen Regenschirm. Er schloß die Augen und zählte langsam bis zehn.
Wie bitte, fragte Bonpland.
Nichts, sagte Humboldt und hämmerte konzentriert einen Splitter aus dem Stein.
Dort hinten gehe es weiter, sagte Bonpland.
Es sei genug, sagte Humboldt.
Bonpland gab zu bedenken, daß es tiefer im Berg wohl noch unbekannte Pflanzen gebe.
Besser zurück, sagte Humboldt. Genug sei genug.
Sie folgten einem Bach in Richtung Tageslicht. Allmählich wurden die Vögel weniger, das Geschrei leiser, bald konnten sie die Fackeln löschen.
Vor der Höhle drehte der indianische Führer ihre beiden Vögel über einem Feuer, um das Fett auszulassen.
Die Federn, Schnäbel und Krallen verbrannten schon, Blut tropfte in die Flammen, Talgmasse zischte, bitterer Rauch hing über der Lichtung. Das wertvollste Fett, er-klärte er. Geruchlos und länger als ein Jahr frisch!
Nun brauchten sie zwei neue, sagte Bonpland wü-
tend.
Humboldt bat Bonpland um seine Schnapsflasche, nahm einen großen Schluck und machte sich mit einem der Mönche auf den Rückweg zur Mission, während Bonpland zurückging, um zwei andere Vögel zu schie-
ßen. Nach einigen hundert Schritten blieb Humboldt stehen, legte den Kopf in den Nacken und sah zu den Wipfeln auf, die hoch über ihm den Himmel trugen.
Schall!
Schall, wiederholte der Mönch.
Wenn nicht der Geruchssinn, sagte Humboldt, dann Schall. Dieses Klicken, zurückgeworfen von den Wänden.
Offenbar orientierten sich die Tiere so.
Im Weitergehen machte er Notizen. Ein System, das der Mensch nutzen könne, in mondloser Nacht oder unter Wasser. Und das Fett: seiner Geruchlosigkeit wegen vortrefflich geeignet zur Kerzenproduktion. Schwungvoll öffnete er die Tür seiner Klosterzelle, in der ihn eine nackte Frau erwartete. Zunächst glaubte er, sie sei wegen der Läuse da oder habe eine Botschaft. Dann begriff er, daß es diesmal nicht so war und sie genau das wollte, wovon er meinte, sie wolle es, und daß es keinen Ausweg gab.
Offenbar hatte sie der Gouverneur geschickt, es ent-sprach wohl seiner Vorstellung von einem derben Scherz unter Männern. Eine Nacht und einen Tag hatte sie allein im Zimmer gewartet, hatte vor Langeweile den Sextanten auseinandergenommen, die gesammelten Pflanzen durcheinandergebracht, von dem für Präparate vorgesehenen Spiritus getrunken und ihren Rausch ausgeschla-fen. Nach dem Aufwachen hatte sie das Porträt eines lustigen Zwerges mit gespitztem Mund, in dem sie natürlich nicht Friedrich den Großen erkannte, auf nicht unbegabte Weise bunt angemalt. Jetzt, da Humboldt endlich hier war, wollte sie es schnell hinter sich bringen.
Noch während er fragte, wo sie herkomme, was sie wünsche und ob er etwas für sie tun könne, öffnete sie geschickt seine Hose. Sie war klein und rundlich und konnte kaum älter als fünfzehn sein. Er wich zurück, sie drängte nach, er stieß an die Wand, und als er sie scharf zurechtweisen wollte, hatte er sein Spanisch vergessen.
Sie heiße Ines, sagte sie, er solle ihr vertrauen.
Als sie ihm das Hemd hochzog, riß ein Knopf ab und kullerte über den Fußboden. Humboldt folgte ihm mit den Augen, bis er an die Wand stieß und umfiel. Sie legte die Arme um seinen Hals und zerrte ihn, während er murmelte, daß sie loslassen solle, er sei Beamter der preu-
ßischen Krone, in die Mitte des Zimmers.
Herrje, sagte sie, solches Herzklopfen.
Sie zog ihn mit sich auf den Teppich, und aus irgendeinem Grund ließ er zu, daß sie ihn auf den Rücken rollte und ihre Hände an ihm hinabwanderten, bis sie stutzte und lachend feststellte, da tue sich ja nicht viel. Er blickte auf ihren gebeugten Rücken, die Zimmerdecke, die im Wind zitternden Palmenblätter vor dem Fenster.
Gleich, sagte sie. Er solle Vertrauen haben!
Die Blätter waren kurz und spitz, diesen Baum hatte er noch nie untersucht. Er wollte sich aufrichten, aber sie legte die Hand auf sein Gesicht und drückte ihn nach unten, und er fragte sich, wieso sie nicht begriff, daß er in der Hölle war. Später hätte er nicht sagen können, wie lange es dauerte, bis sie abließ, ihre Haare zurückstrich und ihn traurig ansah. Er schloß die Augen. Sie stand auf.
Das mache doch nichts, sagte sie leise, das sei ihre Schuld.
Sein Kopf schmerzte, er hatte rasenden Durst. Erst als er hörte, wie die Tür hinter ihr zufiel, öffnete er die Augen.