Bonpland fand ihn am Schreibtisch, zwischen den Chronometern, dem Hygrometer, dem Thermometer und dem wieder zusammengebauten Sextanten. Mit ins Auge geklemmter Lupe betrachtete er Palmenblätter. Ein interessanter Aufbau, bemerkenswert! Allmählich sei es Zeit zum Aufbruch.
So plötzlich?
Nach alten Berichten gebe es einen Kanal zwischen den Strömen Orinoko und Amazonas. Europäische Geographen hielten das für Legende. Die herrschende Schule behaupte, daß nur Gebirge als Wasserscheiden dienen und keine Flußsysteme im Inland vetbunden sein könnten.
Darüber habe er seltsamerweise nie nachgedacht, sagte Bonpland.
Es sei ein Irrtum, sagte Humboldt. Er werde den Kanal finden und das Rätsel lösen.
Aha, sagte Bonpland. Ein Kanal.
Ihm gefalle diese Einstellung nicht, sagte Humboldt.
Immer Klagen, immer Einwürfe. Sei etwas Enthusiasmus zuviel verlangt?
Bonpland fragte, was denn geschehen sei.
In Kürze erwarte man eine Sonnenfinsternis! Das er-mögliche die exakte astronomische Ortsbestimmung der Küstenstadt. Dann könne man ein Netz von Meßpunk-ten bis zu den Enden des Kanals spannen.
Aber der sei doch tief im Urwald!
Ein großes Wort, sagte Humboldt. Das dürfe einen nicht abschrecken. Urwald sei auch nur Wald. Die Natur spreche überall in derselben Sprache.
Er schrieb an seinen Bruder. Herrlich sei die Reise, gewaltig die Fülle der Entdeckungen. Täglich fänden sich neue Pflanzen, mehr, als man zählen könne, die Beobachtung der Beben lege eine neue Theorie der Erdkruste nahe. Ungemein erweitert seien auch die Kenntnisse über die Natur der Kopflaus. Immer der Deine, setz es in die Zeitung!
Er prüfte, ob seine Hand auch ja nicht zitterte.
Dann schrieb er an Immanuel Kant. Ihm dränge sich das Konzept einer neuen Wissenschaft der physischen Geographie auf. In unterschiedlichen Höhen, doch bei ähnlichen Temperaturen wüchsen auf dem gesamten Planeten ähnliche Pflanzen, so daß sich Klimazonen nicht bloß in die Breite, sondern auch in die Höhe erstreckten: An einem Punkt könne die Erdoberfläche alle Stadien vom Tropischen bis ins Arktische durchlaufen.
Verbinde man diese Zonen zu Linien, so erhalte man eine Karte der großen klimatischen Strömungen. Dankbar für alle Hinweise, wie auch in bester Hoffnung, daß der Professor sich wohlbefinde, verbleibe er ... Er schloß die Augen, atmete tief ein und unterschrieb mit dem ausladendsten Namenszug, dessen er fähig war.
Am Tag vor der Verdunkelung des Himmels geschah etwas Unangenehmes. Als sie am Strand Druckmessun-gen anstellten, sprang ein Zambo, halb Schwarzer, halb Indianer, mit einer Holzkeule aus dem Gebüsch. Er knurrte, duckte sich, starrte. Dann griffer an. Einen un-seligen Unfall, nannte es Humboldt, als er einige Tage-später an Bord des Schiffes nach Caracas, bei starkem Seegang und im flackernden Licht einer Kerze, gegen drei Uhr früh darüber schrieb. Er sei dem Schlag nach links ausgewichen, Bonpland zu seiner Rechten habe weniger Glück gehabt. Doch als Bonpland reglos auf dem Boden liegengeblieben sei, habe der Zambo die Gelegenheit verstreichen lassen; statt wieder zuzuschlagen, sei er zu Bonplands weggeflogenem Hut gelaufen, habe ihn sich aufgesetzt und sei mit großen Schritten davongegangen.
Wenigstens war den Instrumenten nichts passiert, und auch Bonpland kam nach zwanzig Stunden wieder zu sich: das Gesicht geschwollen, ein Zahn abgebrochen, die Form der Nase leicht verändert, eingetrocknetes Blut um Mund und Kinn. Humboldt, der abends, nachts und in den langen Stunden des Morgens an seinem Bett gesessen hatte, reichte ihm Wasser. Bonpland wusch sich, spuckte und sah mißtrauisch in den Spiegel.
Die Sonnenfinsternis, sagte Humboldt. Ob es wohl gehen werde?
Bonpland nickte.
Sicher?
Bonpland spuckte aus und lispelte, er sei ganz sicher.
Es kämen große Tage, sagte Humboldt. Vom Orinoko zum Amazonas. Ins Innerste des Landes. Er solle ihm die Hand geben!
Mühsam, wie gegen einen Widerstand, hob Bonpland den Arm.
Zur angekündigten Nachmittagsstunde verlosch die Sonne. Das Licht wurde fahl, ein Schwärm Vögel flatterte schreiend empor und wehte im Wind davon, die Gegenstände saugten die Helligkeit auf, ein Schatten flog heran, der Sonnenball wurde zu einer dunklen Scheibe.
Bonpland, den Kopf verbunden, hielt den Projektions-schirm des künstlichen Horizonts. Humboldt richtete den Sextanten darauf, mit dem anderen Auge schielte er auf das Chronometer. Die Zeit stockte.
Und kam wieder in Gang. Das Licht kehrte zurück: Der Sonnenball strahlte auf, der Schatten löste sich von Hügeln, Erde, Horizont. Vögel schrien, irgendwo feu-erte jemand einen Schuß ab. Bonpland ließ den Schirm sinken.
Humboldt fragte, wie es gewesen sei.
Bonpland sah ihn ungläubig an.
Er habe es nicht gesehen, sagte Humboldt. Nur die Projektion. Er habe das Gestirn im Sextanten fixieren und auch noch die Uhr überwachen müssen. Zum Aufblicken sei keine Zeit gewesen.
Es werde kein zweites Mal geben, sagte Bonpland heiser. Ob er wirklich nicht hinaufgesehen habe?
Der Ort sei jetzt für immer auf den Weltkarten festgesteckt. Nur wenige Augenblicke erlaubten es einem, die Gangfehler der Uhren mit Hilfe des Himmels zu korrigieren. Manche nähmen ihre Arbeit eben ernster als andere!
Das möge ja sein, aber ... Bonpland seufzte.
Ja? Humboldt blätterte im Ephemeridenkatalog, zückte den Bleistift und begann zu rechnen. Aber was?
Müsse man immer so deutsch sein?
Die
Zahlen
An dem Tag, der alles änderte, tat ein Backenzahn so weh, daß er glaubte, wahnsinnig zu werden. Nachts hatte er auf dem Rücken gelegen und dem Schnarchen der Zimmerwirtin nebenan zugehört. Gegen halb sieben, als er müde ins Morgenlicht blinzelte, fand er die Lösung zu einem der ältesten Probleme der Welt.
Er taumelte durch den Raum wie ein Betrunkener. Es mußte sofort aufgeschrieben werden, er durfte es nicht vergessen. Die Schubladen wollten sich nicht öffnen lassen, plötzlich hatte sich das Papier vor ihm versteckt, die Feder brach ab und machte Flecken, und dann kam ihm noch der volle Nachttopf in den Weg. Doch nach einer halben Stunde des Kritzelns stand alles auf einigen zerknüllten Blättern, den Rändern eines Griechischlehr-buchs und der Tischplatte. Er legte die Feder weg. Er atmete schwer. Er bemerkte, daß er nackt war, wunderte sich über den Dreck auf dem Boden, den Gestank. Er fror. Die Zahnschmerzen waren kaum zu ertragen.
Er las. Durchdachte es Zeile für Zeile, folgte der Be-weisführung, suchte nach Fehlern und fand keine. Er strich über das letzte Blatt und sah sein schiefes, ver-wischtes Siebzehneck an. Über zweitausend Jahre lang hatte man mit Lineal und Zirkel regelmäßige Drei- und Fünfecke konstruiert. Das Quadrat zu konstruieren oder von einem Vieleck die Ecken zu verdoppeln, war kin-derleicht. Und wenn man ein Dreieck und ein Fünfeck kombinierte, bekam man ein Fünfzehneck. Mehr war nicht möglich gewesen.
Und jetzt: siebzehn. Und er ahnte eine Methode, mit der man würde weitergehen können. Aber die mußte er noch finden.
Er ging zum Barbier. Dieser band ihm die Hände fest, versprach, es werde gewiß nicht schlimm sein, und schob ihm mit schneller Bewegung die Zange in den Mund.
Schon die Berührung, ein strahlendes Aufleuchten des Schmerzes, ließ ihn fast ohnmächtig werden. Er versuchte noch seine Gedanken zu sammeln, aber dann faßte die Zange zu, etwas klickte in seinem Kopf, und erst der warme Geschmack des Blutes und das Pochen in seinen Ohren brachten ihn wieder in das Zimmer und zu dem Mann mit der Schürze zurück, der sagte, schlimm sei das ja nicht gewesen, oder?
Beim Heimgehen mußte er sich an Hauswände leh-nen, seine Knie waren weich, seine Füße gehorchten ihm nicht, ihm war schwindlig. Schon in ein paar Jahren würde es Ärzte für das Gebiß geben, dann würde man diese Schmerzen heilen können und brauchte nicht jeden entzündeten Zahn herauszureißen. Bald würde die Welt nicht mehr voll Zahnloser sein. Auch würde nicht mehr jedermann Pockennarben haben, und keiner würde mehr seine Haare verlieren. Es wunderte ihn, daß außer ihm niemand an diese Dinge dachte. Für die Leute war alles so, wie es gerade war, selbstverständlich. Mit glasi-gen Augen machte er sich auf den Weg zu Zimmermanns Wohnung.