Er trat ein, ohne zu klopfen, und legte ihm die Blätter auf den Eßtisch.
Oh, sagte der Professor mitleidig, die Zähne, schlimm?
Er selbst habe ja Glück gehabt, ihm fehlten bloß fünf, Professor Lichtenberg habe überhaupt nur mehr zwei, und Kästner sei schon lange zahnlos. Mit spitzen Fingern, wegen eines Blutflecks, nahm er das erste Blatt. Er runzelte die Brauen. Seine Lippen bewegten sich. Es dauerte so lange, daß Gauß es kaum mehr glauben mochte.
Niemand konnte so langsam denken!
Das sei ein großer Moment, sagte Zimmermann schließlich.
Gauß bat um ein Glas Wasser.
Ihm sei nach Beten zumute. Das müsse gedruckt werden, am besten unter dem Namen eines Professors. Es sei nicht üblich, daß Studenten schon publizierten.
Gauß wollte antworten, aber als Zimmermann ihm das Wasserglas brachte, konnte er weder reden noch trinken.
Er entschuldigte sich mit einer Geste, wankte nach Hause, legte sich ins Bett und dachte an seine Mutter drüben in Braunschweig. Es war ein Fehler gewesen, nach Göttingen zu gehen. Hier war die bessere Universität, aber seine Mutter fehlte ihm, wenn er krank war, noch mehr als sonst. Gegen Mitternacht, als seine Wange noch dicker geworden war und jede Bewegung an jeder Stelle seines Körpers weh tat, wurde ihm klar, daß der Barbier den falschen Zahn gezogen hatte.
Zum Glück waten die Straßen frühmorgens noch leer.
So sah niemand, wie er immer wieder stehenblieb, den Kopf gegen Hausmauern lehnte und schluchzte. Er hätte seine Seele dafür gegeben, in hundert Jahren zu leben, wenn es Mittel gegen den Schmerz geben würde und Ärzte, die diesen Namen verdienten. Dabei war es gar nicht schwer: Man brauchte bloß die Nerven am richtigen Ort zu betäuben, am besten mit kleinen Dosen von Gift. Das Curare mußte besser erforscht werden! Es gab eine Flasche davon im chemischen Institut, er würde sich das einmal ansehen. Doch die Gedanken entglitten ihm, und er konnte nur mehr seinem eigenen Stöhnen zuhören.
Das komme vor, sagte der Barbier fröhlich. Schmerz strahle weit aus, aber die Natur sei klug, und der Mensch habe Zähne in Mengen. In dem Moment, als er die Zange hob, wurde es um Gauß dunkel.
Als hätte der Schmerz das Ereignis aus seinem Gedächtnis oder aus der Zeit gelöscht, fand er sich Stunden oder auch Tage später, woher sollte er es wissen, in seinem zer-wühlten Bett wieder, eine halbleere Flasche Schnaps auf dem Nachttisch und zu seinen Füßen das Intelligenzblatt der Allgemeinen Literaturzeitung, in dem Hofrat Zimmermann die neueste Methode zur Konstruktion des regelmäßigen Siebzehnecks vorstellte. Neben dem Bett saß Bartels, der gekommen war, um zu gratulieren.
Gauß befühlte seine Wange. Ach, Bartels. Der kannte das ja: Er kam selbst aus der Armut, hatte als Wun-derkind gegolten und sich zu Großem erwählt geglaubt.
Dann hatte er ihn getroffen, Gauß. Er wußte inzwischen, daß Bartels die ersten zwei Nächte nach ihrer Begegnung wachgelegen und erwogen hatte, wieder ins Dorf zurück-zugehen, Kühe zu melken und Ställe auszumisten. In der dritten Nacht hatte er begriffen, daß es nur einen Weg gab, seine Seele zu retten: Er mußte Gauß mögen. Er mußte ihm helfen, wo immer es ging. Von da an hatte er alle Kraft in die gemeinsame Arbeit gesteckt, hatte mit Zimmermann gesprochen, Briefe an den Herzog geschrieben und eines schweren Abends Gauß’ Vater unter Drohungen, an die sich keiner von ihnen erinnern wollte, dazu gebracht, dem Sohn das Gymnasium zu erlauben. Letzten Sommer dann hatte er Gauß zu dessen Eltern nach Braunschweig begleitet. Plötzlich hatte die Mutter ihn zur Seite genommen und mit vor Sorge und Schüchternheit ganz kleinem Gesicht eine Frage gestellt: Ihr Sohn da auf der Universität, unter all den Gelehrten, ob das denn Zukunft habe? Bartels hatte nicht verstanden. Sie meine, ob das denn etwas werden könne, mit Carl als Forscher. Sie frage im Vertrauen und verspreche, nichts weiterzusagen. Als Mutter mache man sich eben immer Sorgen. Bartels hatte eine Weile geschwiegen, bevor er mit einer Verachtung, für die er sich später schäm-te, gefragt hatte, ob sie denn nicht wisse, daß ihr Sohn der größte Wissenschaftler der Welt sei. Sie hatte sehr geweint, es war furchtbar peinlich gewesen. Gauß hatte es nie ganz geschafft, Bartels zu verzeihen.
Er habe sich jetzt entschieden, sagte Gauß.
Wofür? Bartels sah zerstreut auf.
Gauß seufzte ungeduldig. Für die Mathematik. Bisher habe er sich ja auf die klassische Philologie verlegen wollen, und noch immer gefalle ihm der Gedanke, einen Vergil-Kommentar zu schreiben, besonders über Aeneas’
Abstieg in die Unterwelt. Seiner Ansicht nach habe keiner dieses Kapitel richtig erfaßt. Aber dafür sei ja noch Zeit, er sei schließlich erst neunzehn. Zunächst einmal habe er eingesehen, daß er in der Mathematik mehr leisten könne. Wenn man schon auf der Welt sein müsse, gefragt habe einen ja keiner, könne man auch versuchen, etwas zustande zu bringen. Zum Beispiel die Lösung der Frage, was eine Zahl sei. Die Grundlegung der Arithmetik.
Ein Lebenswerk, sagte Bartels.
Gauß nickte. Mit etwas Glück werde er in fünf Jahren fertig sein.
Doch bald wurde ihm klar, daß es schneller gehen würde. Nachdem er einmal begonnen hatte, drangen die Ideen mit ungekannter Wucht an. Er schlief wenig, besuchte die Universität nicht mehr, aß nur das Nötigste und fuhr selten zu seiner Mutter. Wenn er halblaut redend durch die Straßen ging, fühlte er sich wacher denn je. Ohne hinzusehen, wich er den Leuten aus, nie stolperte er, einmal sprang er grundlos zur Seite und war nicht einmal überrascht, als in derselben Sekunde neben ihm ein Dachziegel zerschellte. Die Zahlen entführten einen nicht aus der Wirklichkeit, sie brachten sie näher heran, machten sie klarer und deutlich wie nie.
Die Zahlen begleiteten ihn jetzt immer. Er vergaß sie nicht einmal, wenn er die Huren besuchte. Es gab nicht viele in Göttingen, sie kannten ihn alle, grüßten ihn mit Namen und gaben ihm manchmal Rabatt, weil er jung war, gut aussah und Manieren hatte. Die ihm am besten gefiel, hieß Nina und stammte aus einer fernen sibiri-schen Stadt. Sie wohnte im alten Accouchierhaus, hatte dunkle Haare, tiefe Grübchen auf den Wangen und breite, nach Erde duftende Schultern; in den Augenblicken, wenn er sie umfaßte, den Blick zur Decke wandte und ihr Schaukeln auf sich spürte, versprach er ihr, sie zu heiraten und ihre Sprache zu lernen. Sie lachte über ihn, und wenn er schwor, daß er es ernst meine, antwortete sie nur, er sei eben noch sehr jung.
Seine Doktoratsprüfung fand unter Aufsicht von Professor Pfaff statt. Auf sein gekritzeltes Ansuchen hin erließ man ihm das mündliche Examen, es wäre auch zu lächerlich gewesen. Als er seine Urkunde abholte, muß- -
te er auf dem Gang warten. Er aß ein Stück trockenen Kuchen und las in den Göttinger Gelehrten Anzeigen den Bericht eines preußischen Diplomaten über dessen Bruders Aufenthalt in Neuandalusien. Ein weißes Haus am Rand der Stadt, abends kühlte man sich im Fluß, Frauen kamen häufig zu Besuch, damit man ihre Läuse zählte. In unbestimmter Erregung blätterte er um. Nackte Indianer in der Kapuzinermission, in Höhlen lebende Vögel, die mit ihren Stimmen sahen wie andere Wesen mit dem Au-genlicht. Die große Sonnenfinsternis, dann der Aufbruch zum Orinoko. Der Brief des Mannes war eineinhalb Jahre unterwegs gewesen, nur Gott mochte wissen, ob er noch lebte. Gauß senkte die Zeitung, Zimmermann und Pfaff standen vor ihm. Sie hatten nicht zu stören gewagt.
Dieser Mann, sagte er, beeindruckend! Aber unsinnig auch, als wäre die Wahrheit irgendwo und nicht hier.