Vermutlich, sagte Gauß und lächelte.
Sie löffelten schweigend, bis der Gendarm von der Grenzstation hereinkam und ihre Pässe verlangte. Eugen gab ihm seinen Passierschein: ein Zertifikat des Hofes, in dem stand, daß er, wiewohl Student, unbedenklich sei und in Begleitung des Vaters preußischen Boden betreten dürfe. Der Gendarm betrachtete ihn mißtrauisch, prüfte den Paß, nickte und wandte sich Gauß zu. Der hatte nichts.
Gar keinen Paß, fragte der Gendarm überrascht, keinen Zettel, keinen Stempel, nichts?
Er habe so etwas noch nie gebraucht, sagte Gauß. Zum letztenmal habe er Hannovers Grenzen vor zwanzig Jahren überschritten. Damals habe er keine Probleme gehabt.
Eugen versuchte zu erklären, wer sie seien, wohin sie fuhren und auf wessen Wunsch. Die Naturforscherver-sammlung finde unter Schirmherrschaft der Krone statt.
Als ihr Ehrengast sei sein Vater gewissermaßen vom Kö-
nig eingeladen.
Der Gendarm wollte einen Paß.
Er könne das ja nicht wissen, sagte Eugen, aber sein Vater werde verehrt in entferntesten Ländern, sei Mitglied aller Akademien, werde seit früher Jugend Fürst der Mathematiker genannt.
Gauß nickte. Man sage, Napoleon habe seinetwegen auf den Beschuß Göttingens verzichtet.
Eugen wurde blaß.
Napoleon, wiederholte der Gendarm.
Allerdings, sagte Gauß.
Der Gendarm verlangte, etwas lauter als zuvor, einen Paß.
Gauß legte den Kopf auf seine Arme und rührte sich nicht. Eugen stieß ihn an, doch ohne Erfolg. Ihm sei es egal, murmelte Gauß, er wolle nach Hause, ihm sei es ganz egal.
Der Gendarm rückte verlegen an seiner Mütze.
Da mischte sich der Mann am Nebentisch ein. Das alles werde enden! Deutschland werde frei sein, und gute Bürger würden unbehelligt leben und reisen, gesund an Körper und Geist, und kein Papierzeug mehr brauchen.
Ungläubig verlangte der Gendarm seinen Ausweis.
Das eben meine er, rief der Mann und kramte in seinen Taschen. Plötzlich sprang er auf, stieß seinen Stuhl um und stürzte hinaus. Der Gendarm starrte ein paar Sekunden auf die offene Tür, bevor er sich faßte und ihm nachlief.
Gauß hob langsam den Kopf. Eugen schlug vor, sofort weiterzufahren. Gauß nickte und aß schweigend den Rest der Suppe. Das Gendarmenhäuschen stand leer, beide Polizisten hatten sich an die Verfolgung des Bärtigen gemacht. Eugen und der Kutscher wuchteten gemeinsam den Schlagbaum in die Höhe. Dann fuhren sie auf preu-
ßischen Boden.
Gauß war nun aufgeräumt, fast heiter. Er sprach über Differentialgeometrie. Man könne kaum ahnen, wohin der Weg in die gekrümmten Räume noch fuhren werde.
Er selbst begreife erst in groben Zügen, Eugen solle froh sein über seine Mittelmäßigkeit, manchmal werde einem angst und bange. Dann erzählte er von der Bitternis seiner Jugend. Er habe einen harten, abweisenden Vater gehabt, Eugen könne sich glücklich schätzen. Gerechnet habe er noch vor seinem ersten Wort. Einmal habe der Vater beim Abzählen des Monatslohns einen Fehler gemacht, daraufhabe er zu weinen begonnen. Als der Vater den Fehler korrigiert habe, sei er sofort verstummt.
Eugen tat beeindruckt, obgleich er wußte, daß die Geschichte nicht stimmte. Sein Bruder Joseph hatte sie erfunden und verbreitet. Inzwischen mußte sie dem Vater so oft zu Ohren gekommen sein, daß er angefangen hatte, sie zu glauben.
Gauß kam auf den Zufall zu sprechen, den Feind allen Wissens, den er immer habe besiegen wollen. Aus der Nähe betrachtet, sehe man hinter jedem Ereignis die un-endliche Feinheit des Kausalgewebes. Trete man weit genug zurück, offenbarten sich die großen Muster. Freiheit und Zufall seien eine Frage der mittleren Entfernung, eine Sache des Abstands. Ob er verstehe?
So ungefähr, sagte Eugen müde und sah auf seine Ta-schenuhr. Sie ging nicht sehr genau, aber es mußte zwischen halb vier und fünf Uhr morgens sein.
Doch die Regeln der Wahrscheinlichkeit, fuhr Gauß fort, während er die Hände auf seinen schmerzenden Rücken preßte, gälten nicht zwingend. Sie seien keine Naturgesetze, Ausnahmen seien möglich. Zum Beispiel ein Intellekt wie seiner oder jene Gewinne beim Glücks-spiel, die doch unleugbar ständig irgendein Strohkopf mache. Manchmal vermute er sogar, daß auch die Gesetze der Physik bloß statistisch wirkten, mithin Ausnahmen erlaubten: Gespenster oder die Übertragung der Gedanken.
Eugen fragte, ob das ein Scherz sei.
Das wisse er selbst nicht, sagte Gauß, schloß die Augen und fiel in tiefen Schlaf.
Sie erreichten Berlin am Spätnachmittag des nächsten Tages. Tausende kleine Häuser ohne Mittelpunkt und Anordnung, eine ausufernde Siedlung an Europas sump-figster Stelle. Eben erst hatte man angefangen, prunkvolle Gebäude zu errichten: einen Dom, einige Paläste, ein Museum für die Funde von Humboldts großer Expedition.
In ein paar Jahren, sagte Eugen, werde das hier eine Metropole sein wie Rom, Paris oder Sankt Petersburg.
Niemals, sagte Gauß. Widerliche Stadt!
Die Kutsche rumpelte über schlechtes Pflaster. Zweimal scheuten die Pferde vor knurrenden Hunden, in den Nebenstraßen blieben die Räder fast im nassen Sand stecken. Ihr Gastgeber wohnte im Packhof Nummer vier, in der Stadtmitte, gleich hinter der Baustelle des neuen Museums. Damit sie es nicht verfehlten, hatte er mit dünner Feder einen sehr genauen Lageplan gezeichnet.
Jemand mußte sie von weitem gesehen und angekündigt haben, denn wenige Sekunden nachdem sie in den Hof eingefahren waren, flog die Haustür auf, und vier Männer liefen ihnen entgegen.
Alexander von Humboldt war ein kleiner alter Herr mit schlohweißen Haaren. Hinter ihm kamen ein Sekretär mit aufgeschlagenem Schreibblock, ein Bote in Livree und ein backenbärtiger junger Mann, der ein Gestell mit einem Holzkasten trug. Als hätten sie es geprobt, stellten sie sich in Positur. Humboldt streckte die Arme nach der Kutschentür aus.
Nichts geschah.
Aus dem Inneren des Fahrzeugs hörte man hektisches Reden. Nein, rief jemand, nein! Ein dumpfer Schlägt ertönte, dann zum dritten Maclass="underline" Nein! Und eine Weile nichts.
Endlich klappte die Tür auf, und Gauß stieg vorsichtig auf die Straße hinab. Er zuckte zurück, als Humboldt ihn an den Schultern faßte und rief, welche Ehre es sei, was für ein großer Moment für Deutschland, die Wissenschaft, ihn selbst.
Der Sekretär notierte, der Mann hinter dem Holzkasten zischte: Jetzt!
Humboldt erstarrte. Das sei Herr Daguerre, flüsterte er, ohne die Lippen zu bewegen. Ein Schützling von ihm, der an einem Gerät arbeite, welches den Augenblick auf eine lichtempfindliche Silberjodidschicht bannen und der fliehenden Zeit entreißen werde. Bitte auf keinen Fall bewegen!
Gauß sagte, er wolle nach Hause.
Nur einen Augenblick, flüsterte Humboldt, fünfzehn Minuten etwa, man sei schon recht weit fortgeschritten.
Vor kurzem habe es noch viel länger gedauert, bei den ersten Versuchen habe er gemeint, sein Rücken halte es nicht aus. Gauß wollte sich loswinden, aber der kleine Alte hielt ihn mit überraschender Kraft fest und murmelte: Dem König Bescheid geben! Schon war der Bote fortgerannt. Dann, offenbar weil es ihm gerade durch den Kopf ging: Notiz, Möglichkeit einer Robbenzucht in Warnemünde prüfen, Bedingungen scheinen günstig, mir morgen vorlegen! Der Sekretär notierte.
Eugen, der erst jetzt leicht hinkend aus der Kutsche stieg, entschuldigte sich für die späte Stunde ihrer An-kunft.
Hier gebe es keine frühe oder späte Stunde, murmelte Humboldt. Hier gebe es nur Arbeit, und die werde getan.
Zum Glück habe man noch Licht. Nicht bewegen!
Ein Polizist betrat den Hof und fragte, was hier los sei.
Später, zischte Humboldt mit zusammengepreßten Lippen.
Dies sei eine Zusammenrottung, sagte der Polizist.
Entweder man gehe sofort auseinander, oder er werde amtshandeln.