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Humboldt schüttelte den Kopf.

Er schon, sagte Bonpland. Ein alter Mann, der sich im Palais Royal mit den Kellnern gestritten habe.

Genau der, sagte der Pater. Hier gebe es noch den einen oder anderen Greis, der sich an ihn erinnere. Auch eine Frau, die vom Pulver eines schlechten Medizinman-nes altere, ohne sterben zu können, ein furchtbarer Anblick übrigens. Ihre Geschichten seien hörenswert. Ob er es erzählen dürfe?

Humboldt seufzte.

Damals, sagte Pater Zea, habe die Akademie ihre drei besten Vermesser geschickt, La Condamine, Bouguer und Godin, um die Meridianlänge des Äquators festzustellen.

Man habe, aus ästhetischen Gründen vor allem, Newtons unschöne These widerlegen wollen, daß die Erde sich durch Rotation abplatte, Pater Zea sah ein paar Sekunden konzentriert auf den Tisch. Ein riesiges Insekt landete auf seiner Stirn. Instinktiv streckte Bonpland die Hand aus, stockte und zog sie wieder zurück.

Den Äquator messen, fuhr Pater Zea fort. Also eine Linie ziehen, wo nie eine gewesen sei. Ob sie sich dort draußen umgesehen hätten? Linien gebe es woanders.

Mit seinem knochigen Arm zeigte er auf das Fenster, das Gestrüpp, die von Insekten umschwärmten Pflanzen.

Nicht hier!

Linien gebe es überall, sagte Humboldt. Sie seien eine Abstraktion. Wo Raum an sich sei, seien Linien.

Raum an sich sei anderswo, sagte Pater Zea.

Raum sei überall!

Überall sei eine Erfindung. Und den Raum an sich gebe es dort, wo Landvermesser ihn hintrügen. Patet Zea schloß die Augen, hob sein Weinglas und stellte es wieder ab, ohne daraus getrunken zu haben. Die drei Männer hätten unvorstellbar genau gearbeitet. Trotzdem hätten ihre Daten nie übereingestimmt. Zwei Bogenminuten auf dem Gerät La Condamines seien drei auf dem Gerät Bouguers gewesen, ein halbes Grad im Fernrohr Godins eineinhalb im Fernrohr La Condamines. Um ihre Linie zu ziehen, seien sie auf astronomische Messungen angewiesen gewesen, solch nützliche, tragbare Uhren, der Pater streifte das Chronometer an Humboldts Gürtel mit einem spöttischen Blick, habe es noch nicht gegeben.

Die Dinge seien noch nicht gewöhnt gewesen ans Ge-messenwerden. Drei Steine und drei Blätter seien noch nicht gleich viele gewesen, fünfzehn Gramm Erbsen und fünfzehn Gramm Erde noch nicht gleich schwer. Dazu die Hitze, die Feuchtigkeit, die Moskitos, der unablässige Kampfeslärm der Tiere. Eine Wut ohne Grund und Ziel sei über die Männer gekommen. Der wohlerzogene La Condamine habe Bouguers Meßgeräte verstellt, der wiederum Godins Bleistifte zerbrochen. Täglich habe es Streit gegeben, bis Godin den Degen gezückt habe und davongestolpert sei in den Urwald. Das gleiche, ein paar Wochen später, zwischen Bouguer und La Condamine.

Pater Zea faltete die Hände. Man müsse sich das vorstellen. Derart zivilisierte Herren mit Allongeperücken, Lor-gnons und parfümierten Taschentüchern! La Condamine habe es am längsten ausgehalten. Acht Jahre im Wald, beschützt von nur einer Handvoll fieberkranker Soldaten. Er habe Schneisen geschlagen, die zugewachsen seien, sobald er sich abgewandt habe, Bäume gefällt, welche schon in der nächsten Nacht wieder in die Luft geragt hätten; und dennoch, halsstarrig, habe er nach und nach ein Zahlennetz über die widerstrebende Natur gezwun-gen. Er habe Dreiecke gezogen, deren Winkelsumme sich allmählich den hundertachtzig genähert, und Bögen trianguliert, deren Krümmung schließlich sogar dem Flirren der Luft widerstanden habe. Dann habe er einen Brief der Akademie erhalten. Die Schlacht sei verloren, der Beweis in Newtons Sinn geführt, die Erde abgeplattet, die ganze Arbeit umsonst.

Bonpland nahm einen riefen Schluck aus der Weinfla-sche. Er schien vergessen zu haben, daß Gläser dastanden und sich das nicht gehörte. Humboldt warf ihm einen strafenden Blick zu.

So sei, sagte Pater Zea, der geschlagene Mann eben heimgefahren. Vier Monate lang, einen noch immer namenlosen Fluß entlang, den er erst später Amazonas getauft habe. Unterwegs habe er Karten gemalt, den Bergen Namen gegeben, die Temperatur verzeichnet, die Arten der Fische, Insekten, Schlangen und Menschen erfaßt. Nicht weil es ihn interessiert habe, sondern um den Verstand zu bewahren. Niemals habe er danach in Paris über die Dinge geredet, an die der eine oder andere seiner Soldaten sich noch erinnert habe: die kehligen Laute und perfekt gezielten Giftpfeile aus dem Unterholz, die nächtlichen Lichterscheinungen, vor allem aber jene winzigen Verschiebungen in der Wirklichkeit, wenn die Welt für Momente einen Schritt ins Irreale gemacht habe. Dann hätten zwar die Bäume noch wie Bäume, die träge strudelnden Wasser wie Wasser ausgesehen, aber man habe es schaudernd als Mimikri von etwas Fremdem erkannt. In dieser Zeit habe La Condamine auch den Kanal gefunden, von dem der verrückte Aguirre berichtet habe. Die Verbindung der zwei größten Flüsse des Kontinents.

Er werde beweisen, daß sie existiere, sagte Humboldt.

Alle großen Ströme seien verbunden. Die Natur sei ein Ganzes.

Ach ja? Pater Zea wiegte zweifelnd den Kopf. Jahre später, als La Condamine, längst Akademiemitglied und alt und berühmt, nur mehr selten schreiend erwacht sei und es angeblich sogar wieder fertiggebracht habe, an Gott zu glauben, habe er selbst den Kanal für einen Irrtum erklärt. Zwischen großen Flüssen, habe er gesagt, gebe es keine Verbindung im Inland. So etwas brächte den Kontinent in eine Unordnung, die seiner nicht würdig wäre. Pater Zea schwieg einen Moment, dann stand er auf und verbeugte sich. Träumen Sie gut, Baron. Und wachen Sie gut auf!

Am frühen Morgen rissen Schmerzensschreie sie aus dem Schlaf. Einer der im Hof angeketteten Männer wurde von zwei Priestern mit Lederriemen gepeitscht. Humboldt lief hinzu und fragte, was hier vorgehe.

Nichts, sagte der eine Priester. Wieso?

Eine ganz alte Angelegenheit, sagte der andere. Es habe nichts mit ihrer Weiterreise zu tun. Er gab dem Indianer einen Tritt, der brauchte einen Moment, bis er verstand und in schlechtem Spanisch bestätigte, daß es eine ganz alte Angelegenheit sei und nichts mit der Reise zu tun habe.

Humboldt zögerte. Bonpland, der dazugekommen war, sah ihn vorwurfsvoll an. Aber sie müßten doch weiter, sagte Humboldt leise. Was solle er denn machen?

Pater Zea rief sie zu sich und zeigte ihnen seinen kost-barsten Besitz. Einen zerzausten Papagei, der einige Sätze im Idiom eines ausgestorbenen Stammes sprach. Vor zwanzig Jahren habe es diese Leute noch gegeben, jetzt lebe kein einziger mehr, und niemand verstehe, was der Vogel zusammenrede.

Humboldt streckte die Hand aus, der Papagei pickte danach, blickte zu Boden, als müsse er nachdenken, schüttelte die Flügel und sagte etwas Unverständliches.

Bonpland erkundigte sich, weshalb der Stamm verschwunden sei.

Das passiere, sagte Pater Zea.

Wieso?

Pater Zea musterte ihn mit schmalen Augen. So sei es natürlich leicht. Man komme und bemitleide jeden, der traurig aussehe, und daheim könne man dann schlimme Geschichten erzählen. Aber wer plötzlich mit fünfzig Mann zehntausend Wilde regieren müsse, wer sich jede Nacht frage, was die Stimmen im Wald bedeuteten, und jeden Morgen verwundert sei, daß er noch lebe, beurteile es vielleicht anders.

Ein Mißverständnis, sagte Humboldt. Niemand habe etwas kritisieren wollen.

Vielleicht doch, sagte Bonpland. Einiges wolle er schon wissen. Er stockte und konnte nicht glauben, daß Humboldt ihn gerade getreten hatte. Der Vogel sah zwischen ihnen hin und her, sagte etwas und blickte sie er-wartungsvoll an.

Richtig, antwortete Humboldt, der nicht unhöflich sein wollte.

Der Vogel schien zu überlegen und fügte einen langen Satz hinzu.

Humboldt streckte die Hand aus, der Vogel hackte danach und wandte sich beleidigt ab.