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Gauß blickte sich um. Die Straße lag ruhig im Son-nenschein, ein Bäcker trug einen Brotkorb vorbei, über dem Kirchendach funkelte träge das Blech des Wetter-hahns. Es duftete nach Flieder. Krieg?

Tatsächlich hatte er seit Wochen keine Zeitung gelesen. Bei Bartels, der alles aufhob, setzte er sich vor einen Stapel alter Journale. Grimmig überblätterte er einen Bericht Alexander von Humboldts über das Hochland von Caxamarca. Wo zum Teufel war dieser Kerl nicht gewesen? Doch gerade als er bei den Kriegsberichterstattungen anlangte, unterbrach ihn das Räderknirschen einer Fuhrwerkkolonne. Bajonette, Reiterhelme und Lanzen bewegten sich eine halbe Stunde lang am Fenster vorbei.

Bartels kam atemlos heim und erzählte, daß in einer der Kutschen der Herzog liege, bei Jena angeschossen, blutend wie Vieh, im Sterben. Alles sei verloren.

Gauß faltete die Zeitung zusammen. Dann könne er ja heimgehen.

Er durfte es keinem sagen, aber dieser Bonaparte interessierte ihn. Angeblich diktierte er bis zu sechs Briefe zugleich. Einst hatte er eine vorzügliche Abhandlung über das Problem der Kreisteilung mit festgestelltem Zirkel verfaßt. Schlachten gewann er, indem er als erster und am überzeugendsten behauptete, gewonnen zu haben.

Er dachte schneller und gründlicher als die anderen, das war das ganze Geheimnis. Gauß fragte sich, ob Napoleon wohl von ihm gehört hatte.

Mit der Sternwarte werde es so bald nichts, sagte er beim Abendessen zu Johanna. Noch immer beobachte er den Himmel von seinem Wohnzimmer aus, das sei doch kein Zustand! Er habe ein Angebot aus Göttingen. Dort wolle man ebenfalls ein Observatorium bauen, es sei nicht weit, er könnte von dort jede Woche seine Mutter besuchen. Der Umzug könnte erledigt sein, bevor das Kind da sei.

Aber Göttingen, sagte Johanna, gehöre jetzt zu Frankreich.

Göttingen zu Frankreich?

Wieso, rief sie, sei ausgerechnet er blind für Dinge, die sonst jeder sehe? Göttingen gehöre zu Hannover, dessen Personalunion mit der englischen Krone durch Frankreichs Siege gebrochen sei und das Napoleon dem neuen Königreich Westfalen angegliedert habe, regiert von Jé-

rôme Bonaparte. Wem also leiste ein westfälischer Beamte den Diensteid? Napoleon!

Er rieb sich die Stirn. Westfalen, wiederholte er, als würde es klarer, wenn er es sich vorsagte. Jérôme. Was habe das mit ihnen zu tun?

Mit Deutschland, sagte sie, habe es zu tun und damit, wo man stehe.

Er sah sie hilflos an.

Sie wisse schon, jetzt werde er sagen, daß aus der Zukunft zurückgeblickt beide Seiten einander gleichen würden, daß sich bald keiner mehr über das erregen werde, wofür man heute sterbe. Aber was ändere das? Die Anbiederung an die Zukunft sei eine Form der Feigheit.

Glaube er wirklich, man werde dann klüger sein?

Ein wenig schon, sagte er. Notgedrungen.

Man lebe aber jetzt!

Leider, sagte er, löschte die Kerzen, ging zum Teleskop und richtete es auf die nebelverhangene Oberfläche des Jupiter. Deutlicher als je sah er in der klaren Nacht seine winzigen Monde.

Das Fernrohr schenkte er bald darauf Professor Pfaff, und sie zogen nach Göttingen. Auch hier herrschte Unordnung. Nachts lärmten französische Soldaten, und wo das Observatorium entstehen sollte, war noch nicht einmal die Erde für das Fundament ausgehoben, bloß ein paar Schafe zupften an Grashalmen. Die Sterne mußte er von Professor Lichtenbergs alter Turmkammer auf der Stadtmauer aus beobachten. Und das Schlimmste: Man zwang ihn, Kollegien zu halten. Junge Männer kamen in seine Wohnung, schaukelten mit seinen Stühlen und machten ihm die Sofakissen speckig, während er sich abmühte, ihnen auch nur irgend etwas begreiflich zu machen.

Von allen Menschen, die er je getroffen hatte, waren seine Studenten die dümmsten. Er sprach so langsam, daß er den Beginn des Satzes vergessen hatte, bevor er am Schluß war. Es nützte nichts. Er sparte alles Schwierige aus und beließ es bei den Anfangsgründen. Sie verstanden nicht. Am liebsten hätte er geweint. Er fragte sich, ob die Beschränkten ein spezielles Idiom hatten, das man lernen konnte wie eine Fremdsprache. Er gestikulierte mit beiden Händen, zeigte auf seinen Mund und formte die Laute überdeutlich, als hätte er es mit Taubstummen zu tun. Doch die Prüfung schaffte nur ein junger Mann mit wäßrigen Augen. Sein Name war Moebius, und als einziger schien er kein Kretin zu sein. Als bei der zweiten Prüfung wiederum nur er bestanden hatte, nahm der Dekan nach der Fakultätsversammlung Gauß zur Seite und bat, nicht ganz so streng zu verfahren. Als Gauß den Tränen nahe nach Hause kam, fand er dort nur unge-betene Fremde: einen Arzt, eine Hebamme und seine Schwiegereltern.

Alles habe er versäumt, sagte die Schwiegermutter.

Wohl wieder den Kopf in den Sternen gehabt!

Er habe ja nicht einmal ein anständiges Fernrohr, sagte er bedrückt. Was denn passiert sei?

Es sei ein Junge.

Was für ein Junge denn? Erst als er ihrem Blick begegnete, verstand er. Und er wußte sofort, daß sie ihm das nie verzeihen würde.

Es tat ihm leid, daß es ihm so schwer fiel, den Kleinen zu mögen. Man hatte ihm gesagt, das komme von selbst.

Aber noch Wochen nach der Geburt, wenn er das hilflose Wesen, das aus irgendeinem Grund Joseph hieß, in Händen hielt und seine winzige Nase und verwirrenderweise vollzähligen Zehen betrachtete, fühlte er nichts als Mitleid und Scheu. Johanna nahm es ihm ab und fragte mit einem Anflug von Besorgnis, ob er glücklich sei. Aber natürlich, sagte er und ging zum Teleskop.

Seit sie in Göttingen lebten, besuchte er wieder Nina.

Sie war nicht mehr ganz jung und empfing ihn mit der Vertrautheit einer Ehefrau. Er habe noch immer nicht Russisch gelernt, sagte sie vorwurfsvoll, und er entschuldigte sich und versprach, es bald zu tun. Von diesen Besuchen, das hatte er sich geschworen, würde Johanna nie erfahren, selbst unter Folter wollte er lügen. Er war verpflichtet, Schmerz von ihr fernzuhalten. Er war nicht verpflichtet, ihr die Wahrheit zu sagen. Wissen war schmerzhaft. Kein Tag verging, an dem er selbst sich nicht weniger davon wünschte.

Er hatte ein Werk über Astronomie begonnen. Nichts Bedeutendes, kein Buch für die Ewigkeit wie die Disquisitiones, die Zeit würde es hinter sich lassen. Aber es versprach die genaueste Anleitung zur Bahnberechnung zu werden, die es je gegeben hatte. Und er mußte sich beeilen. Obwohl er gerade erst dreißig war, bemerkte er, daß seine Fähigkeit zur Konzentration nachließ und die Pausen, welche die Menschen vor ihren Antworten zu machen schienen, immer kürzer wurden. Er hatte weitere Zähne verloren, und Woche für Woche plagten ihn Koliken. Der Arzt riet zu einer Pfeife jeden Morgen und einem lauwarmen Bad vor dem Schlafengehen. Er war sicher, daß er nicht alt werden würde. Als Johanna ihm mitteilte, daß schon wieder ein Kind unterwegs sei, hätte er nicht sagen können, ob er sich darüber freute. Es würde ohne ihn aufwachsen müssen, das stand fest.

Immerhin machte er diesmal alles richtig: Er war ängst-lich während der Geburt und erleichtert danach, und zu Ehren ihrer dummen Freundin Minna nannten sie das Mädchen Wilhelmine. Als er nur wenige Monate später versuchte, ihr Rechnen beizubringen, sagte Johanna, das sei nun wirklich zu früh.

Widerwillig, da Johanna schon wieder schwanger war, fuhr er nach Bremen, um mit Bessel die Jupitertabellen durchzugehen. Vor der Abfahrt schlief er eine Woche schlecht, hatte Alpträume, war tagsüber wütend und bedrückt. Die Reise war noch schlimmer als die nach Königsberg, die Kutsche noch enger, die Mitreisenden noch weniger gewaschen, und als ein Rad brach, mußten sie vier Stunden in einer lehmigen Landschaft stehen, während der Kutscher es schimpfend reparierte. Sofort nachdem Gauß übermüdet, mit schwerem Kopf und schmerzendem Rücken aus der Kutsche gestiegen war, fragte ihn Bessel nach der Berechnung der Jupitermasse aus den Ceresstörungen. Ob er schon einen konsistenten Orbit habe?