Выбрать главу

Gauß lief rot an. Es gelinge ihm nicht, was solle er tun!

Hunderte Stunden habe er sich damit befaßt. Die Sache sei unvorstellbar diffizil. Eine Qual sei es und er zum Teufel nicht mehr jung, man solle ihn verschonen, er lebe ohnehin nicht mehr lange, es sei ein Fehler gewesen, sich auf diesen Kram einzulassen.

Kleinlaut fragte Bessel, ob er das Meer sehen wolle.

Keine Expeditionen, sagte Gauß.

Es sei ganz nahe, sagte Bessel. Eine Spazierfahrt bloß!

In Wahrheit war es eine weitere mühselige Reise, und die Kutsche schaukelte so stark, daß Gauß wieder seine Koliken hatte. Es regnete, das Fenster schloß nicht dicht, und sie wurden naß bis auf die Haut.

Aber es lohne sich, wiederholte Bessel immer wieder.

Das Meer müsse man doch gesehen haben.

Müsse man? Gauß fragte, wo das geschrieben stehe.

Der Strand war verdreckt, und auch das Wasser ließ zu wünschen übrig. Der Horizont schien eng, der Himmel niedrig, das Meer wie eine Suppe unter schmutzi-gem Nebel. Kalter Wind wehte. In der Nahe verbrannte etwas, und der Rauch machte das Atmen schwer. Auf den Wellen hob und senkte sich ein kopfloser Hühner-körper.

Ja, gut. Gauß blinzelte in den Dunst. Dann könne man jetzt wohl zurück.

Doch Bessels Unternehmungslust war ungehemmt.

Es reiche nicht, das Meer zu sehen, man müsse auch im Theater gewesen sein!

Theater sei teuer, sagte Gauß.

Bessel lachte. Der Herr Professor solle sich in allem als Gast betrachten, es sei ihm eine Ehre. Er miete eine Privatkutsche, man sei im Handumdrehen dort!

Die Reise dauerte vier quälende Tage, und das Bett im Weimarer Gasthof war so hart, daß Gauß’ Rücken-schmerzen unerträglich wurden. Außerdem brachten ihn die Sträucher an der Um zum Niesen. Im Hoftheater war es heiß, das stundenlange Sitzen eine Pein. Man gab ein Stück von Voltaire. Irgend jemand tötete einen anderen.

Eine Frau weinte. Ein Mann klagte. Eine andere Frau fiel auf die Knie. Monologe wurden gehalten. Die Überset-zung war schön und voll Melodie, aber Gauß hätte sie lieber gelesen. Vom Gähnen rannen ihm Tränen über die Wangen.

Nicht wahr, flüsterte Bessel, es sei bewegend!

Die Schauspieler schleuderten ihre Hände in die Luft, traten unablässig vor und zurück und rollten beim Sprechen mit den Augen.

Er glaube, flüsterte Bessel, Goethe sei heute in seiner Loge.

Gauß fragte, ob das der Esel sei, der sich anmaße, Newtons Theorie des Lichts zu korrigieren.

Leute drehten sich zu ihnen um, Bessel schien in seinem Sitz zu schrumpfen und sagte kein Wort mehr, bis der Vorhang fiel.

Beim Hinausgehen wurden sie von einem hageren Herrn angesprochen. Ob er die Ehre mit Gauß, dem Astronomen, habe?

Dem Astronomen und Mathematiker, sagte Gauß.

Der Mann stellte sich als preußischer Diplomat vor, zur Zeit ansässig in Rom, gerade auf der Durchreise nach Berlin, wo er einen Posten als Direktor der Unterrichts-sektion im Innenministerium antreten werde. Es gebe viel zu tun, deutsches Schulwesen müsse von Grund auf reformiert werden. Er selbst habe die beste Erziehung genossen, nun finde er Gelegenheit, etwas davon weiter-zureichen. Er stand sehr aufrecht, ohne sich auf seinen silbernen Stock zu stützen. Übrigens seien sie Alumni derselben Universität und hätten gemeinsame Bekannte.

Daß Herr Gauß auch in der Mathematik tätig sei, habe er nicht gewußt. Erhebend, nicht wahr?

Gauß verstand nicht.

Die Aufführung.

Naja, sagte Gauß.

Er begreife schon. Nicht ganz das richtige in diesem Moment. Etwas Deutsches wäre angemessener gewesen.

Aber mit Goethe diskutiere man schwer über solche Dinge.

Gauß, der zuvor nicht zugehört hatte, bat den Diplomaten, seinen Namen zu wiederholen.

Der Diplomat tat es mit einer Verneigung. Er sei übrigens auch Forscher!

Neugierig beugte Gauß sich vor.

Er untersuche alte Sprachen.

Ach so, sagte Gauß.

Das, sagte der Diplomat, habe enttäuscht geklungen.

Sprachwissenschaft. Gauß wiegte den Kopf. Er wolle ja keinem zu nahe treten.

Nein, nein. Er solle es ruhig sagen.

Gauß zuckte die Achseln. Das sei etwas für Leute, welche die Pedanterie zur Mathematik hätten, nicht jedoch die Intelligenz. Leute, die sich ihre eigene notdürftige Logik erfänden.

Der Diplomat schwieg.

Gauß fragte ihn nach seinen Reisen. Er müsse ja wirklich überall gewesen sein!

Das, sagte der Diplomat säuerlich, sei sein Bruder.

Eine Verwechslung, die ihm nicht zum erstenmal passiere. Er verabschiedete sich und ging mit kleinen Schritten davon.

In der Nacht ließen die Schmerzen an Rücken und Bauch Gauß nicht einschlafen. Er wälzte sich hin und her und schimpfte leise auf sein Schicksal, auf Weimar und vor allem Bessel. Früh am nächsten Morgen, Bessel war noch nicht aufgestanden, ließ er anspannen und befahl dem Kutscher, ihn sofort nach Göttingen zu bringen.

Endlich angekommen, die Reisetasche noch in der Hand, abwechselnd vorgebeugt wegen seiner Bauch-schmerzen und schief zurückgelehnt wegen seines steifen Rückens, fragte er in der Universität nach dem Baube-ginn des Observatoriums.

Man höre zur Zeit nicht viel vom Ministerium, sagte der Beamte. Hannover sei weit. Genaues wisse man nicht.

Falls er das vergessen habe, es sei Krieg.

Die Armee habe Schiffe, sagte Gauß, die müsse man navigieren, dafür brauche man Sternenkarten, und die erstelle man nicht gut daheim in der Küche.

Der Beamte versprach baldige Nachricht. Übrigens plane man eine gründliche Neuvermessung des Königreichs Westfalen. Der Herr Professor habe doch schon einmal als Geodät gearbeitet. Man suche noch einen tüchtigen Rechner als Leiter der Unternehmung.

Gauß öffnete den Mund. Mit aller Willenskraft brachte er es fertig, den Mann nicht anzuschreien. Er schloß ihn wieder und ging ohne Gruß.

Er riß die Wohnungstür auf und rief, er sei zurück und gehe so bald nicht wieder. Als er sich im Flur die Stiefel auszog, traten Arzt, Hebamme und Schwiegermutter aus dem Schlafzimmer. Also schön, diesmal würde er sich nicht blamieren. Breit lächelnd und etwas zu über-schwenglich fragte er, ob es schon da sei und ob Junge oder Mädchen und vor allem, wieviel es wiege.

Ein Junge, sagte der Arzt. Er liege im Sterben. Wie auch die Mutter.

Man habe alles versucht, sagte die Hebamme.

Was danach geschah, konnte sein Gedächtnis lange nicht zur Einheit formen. Es kam ihm vor, als wäre die Zeit vor- und zurückgeschnellt, als hätten sich mehrere Möglichkeiten eröffnet und gegenseitig wieder ausgelöscht. Eine Erinnerung zeigte ihn an Johannas Bett, während sie kurz die Augen aufschlug und ihm einen Blick zuwarf, in dem kein Wiedererkennen war. Die Haare klebten ihr im Gesicht, ihre Hand war feucht und kraftlos, der Korb mit dem Säugling stand neben seinem Stuhl. Dem widersprach eine andere Erinnerung, in der sie schon kein Bewußtsein mehr hatte, als er ins Zimmer stürmte, und eine dritte, in der sie in diesem Augenblick bereits gestorben war, ihr Körper bleich und wächsern, sowie eine vierte, in der er mit ihr ein Gespräch von entsetzlicher Klarheit führte: Sie fragte, ob sie sterben müs-se, nach einem Moment des Zögerns nickte er, worauf sie ihn aufforderte, nicht zu lange traurig zu sein, man lebe, dann sterbe man, so sei es nun einmal. Erst nach der sechsten Nachmittagsstunde fügte sich alles wieder. Er saß an ihrem Bett. Menschen tuschelten im Flur. Johanna war tot.

Er schob den Stuhl zurück und versuchte sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß er wieder heiraten mußte.

Er hatte Kinder. Er wußte nicht, wie man die aufzog. Einen Haushalt fuhren konnte er nicht. Dienstboten waren teuer.

Leise öffnete er die Tür. Das, dachte er, ist es. Leben müssen, obgleich alles vorbei ist. Disponieren, organisieren: jeden Tag, jede Stunde und Minute. Als hätte es noch Sinn.