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Ein wenig beruhigte es ihn, als er seine Mutter ankom-men hörte. Er dachte an die Sterne. Die kurze Formel, die all ihre Bewegungen in einer Zeile zusammenfaßte.

Zum erstenmal wußte er, daß er sie nicht finden würde.

Allmählich wurde es dunkel. Zögernd ging er zum Teleskop.

Der

Berg

Beim Licht einer Ölfunzel, während der Wind immer mehr Schneeflocken vorbeitrug, versuchte Aimé Bonpland, einen Brief nach Hause zu schreiben. Denke er an die vergangenen Monate, so sei ihm, als habe er Dutzende Leben hinter sich, alle einander ähnlich und keines wiederholenswert. Die Orinokofahrt scheine ihm wie etwas, wovon er in Büchern gelesen habe, Neuandalusien sei eine Legende aus der Vorzeit, Spanien nur mehr ein Wort. Inzwischen gehe es ihm besser, manche Tage seien schon fieberfrei, auch die Träume, in denen er Baron Humboldt erwürge, zerhacke, erschieße, anzünde, vergifte oder unter Steinen begrabe, würden seltener.

Er überlegte und kaute an seinem Federkiel. Etwas weiter bergan, umgeben von schlafenden Maultieren, das Haar mit Rauhreif und etwas Schnee bedeckt, rechnete Humboldt an einer Positionsbestimmung mit Hilfe der Jupitermonde. Auf den Knien balancierte er den Glas-zylinder des Barometers. Neben ihm schliefen, in Wolldecken gewickelt, ihre drei Bergführer.

Morgen, schrieb Bonpland weiter, wollten sie den Chimborazo bezwingen. Für den Fall, daß sie es nicht überlebten, habe Baron Humboldt ihm dringend geraten, einen Abschiedsbrief zu schreiben, weil es nämlich unwürdig sei, einfach so und ohne Schlußwort zu sterben.

Auf dem Berg würden sie Steine und Pflanzen sammeln, selbst hier oben gebe es unbekannte Gewächse, er habe in den letzten Monaten viel zu viele davon zerschnitten.

Der Baron behaupte, es gebe bloß sechzehn Grundtypen, aber er sei eben gut im Erkennen von Typen, ihm, Bonpland, kämen sie unzählig vor. Ein Großteil ihrer Präparate, darunter drei sehr alte Leichen, seien in Havanna auf ein Schiff nach Frankreich verladen worden, in einem zweiten Schiff hätten sie die Herbarien und all ihre Aufzeichnungen an Baron Humboldts Bruder gesandt.

Vor drei Wochen oder vielleicht auch sechs, die Tage vergingen so schnell und er habe den Überblick verloren, hätten sie erfahren, daß eines der Schiffe abgesoffen sei.

Baron Humboldt habe es schlimme Tage beschert, dann aber habe er gesagt, man sei ja erst am Anfang. Ihm, Bonpland, habe der Verlust weniger zugesetzt, denn sein Fieber sei damals so stark gewesen, daß er nur vage ge-wußt habe, wo er gewesen sei und warum und wer. Den Großteil der Zeit habe er in Alpträumen mit Fliegen und mechanischen Spinnen gekämpft. Er bemühe sich, nicht daran zurückzudenken, und hoffe bloß, daß das gesunke-ne Schiff nicht das mit den Leichen gewesen sei. So viele Stunden habe er mit ihnen verbracht, daß er in ihnen gegen Ende der Flußfahrt nicht mehr bloße Schiffsladung, sondern schweigsame Gefährten gesehen habe.

Bonpland wischte sich die Stirn ab und nahm einen tiefen Schluck aus seiner Messingflasche. Früher hatte er eine aus Silber gehabt, aber die war ihm unter Umständen, an die er sich nicht erinnerte, abhanden gekommen.

Man sei, schrieb er, ja erst am Anfang. Er bemerkte, daß der Satz jetzt zweimal dastand, und strich ihn aus. Man sei ja erst am Anfang! Er blinzelte und strich ihn zum zweitenmal. Leider sei es ihm nicht möglich, die Details ihrer Route zu schildern, ihm verschwimme alles, er sehe bloß noch ein paar Bilder vor sich, zwischen denen er mit Mühe einen Zusammenhang herstellen könne. In Havanna zum Beispiel habe der Baron zwei Krokodile einfangen und mit einem Rudel Hunde zusammensper-ren lassen, um ihr Jagdverhalten zu studieren. Das Geschrei der Hunde sei kaum zu ertragen gewesen, es habe geklungen wie das Jammern von Kindern. Danach seien die Wände so blutig gewesen, daß man den Saal auf Baron Humboldts Kosten neu habe ausmalen müssen.

Er schloß die Augen, riß sie wieder auf und blickte sich überrascht um, als hätte er für einen Moment vergessen, wo er war. Er hustete und nahm einen tiefen Schluck. Vor Cartagena sei ihr Schiff beinahe gekentert, auf dem Magdalenenfluß hätten die Moskitos sie hartnäckiger gequält als auf dem Orinoko, schließlich seien sie über Tausende vom verschwundenen Inkavolk ange-legte Stufen in die kalten Höhen der Kordilleren aufge-stiegen. Normalerweise werde man da von Trägern ge-schleppt, aber Baron Humboldt habe es verweigert. Der Menschenwürde wegen. Die Träger seien so beleidigt gewesen, fast hätten sie sie verprügelt. Bonpland holte tief Luft; dann, wider Willen, seufzte er leise. Vor Santa Fé de Bogota hätten sie die Honoratioren der Stadt erwartet, ihr Ruf sei ihnen offenbar vorausgeeilt, wiewohl seltsamerweise jeder vom Baron, niemand aber von Aimé Bonpland gehört habe. Vielleicht liege das am Fieber. Er stockte, der letzte Satz schien ihm unlogisch. Er erwog ihn zu streichen, aber dann entschied er sich dagegen.

Noble Leute seien es gewesen, es habe Gelächter gegeben, als der Baron sich gesträubt habe, sein Barometer aus der Hand zu legen, auch habe man sich gewundert, daß ein so berühmter Mann so klein gewachsen sei. Sie hätten bei dem Biologen Mutis gewohnt. Ständig habe der Baron von Pflanzen sprechen wollen, immer wieder habe Mutis erwidert, daß sich derlei Themen in Gesellschaft nicht ziemten. Immerhin habe er, Bonpland, mit Mutis’ Kräutern sein Fieber gesenkt. Mutis habe eine junge Kammerzofe beschäftigt, eine Indianerin aus dem Hochland, mit der man, er hielt inne, nahm einen großen Schluck und spähte mit gerunzelter Stirn nach Humboldts in der Dämmerung kaum mehr sichtbarer Gestalt, ausgezeichnete Gespräche habe fuhren können über dies und das und noch anderes. Unterdessen habe der Baron Bergwerke besichtigt und Karten erstellt. Vortreffliche Karten. Daran zweifle er nicht.

Ohne es zu wollen, nickte er ein paarmal, dann fuhr er fort. Mit elf Maultieren seien sie weitergezogen, über den Fluß, die Paßstraße entlang. Viel Regen. Der Boden voller Morast und Stacheln, und da Baron Humboldt weiterhin nicht gewillt gewesen sei, sich tragen zu lassen, hätten sie barfuß gehen müssen, um die Stiefel zu schonen. Sie hätten sich die Füße blutig gelaufen. Und die Maultiere seien störrisch gewesen! Die Besteigung des Pichincha hätten sie abgebrochen, als Übelkeit und Schwindel ihn überwältigt hätten. Zunächst habe Baron Humboldt alleine weitergewollt, aber dann sei auch er ohnmächtig geworden. Irgendwie hätten sie es bis zurück ins Tal geschafft. Der Baron habe es dann erneut versucht, mit einem Führer, der natürlich noch nie oben gewesen sei, in diesen Ländern kletterten die Menschen nicht auf Berge, wenn keiner sie zwinge. Erst der dritte Versuch sei gelungen, und nun wüßten sie genau, wie hoch der Berg sei, welche Temperatur sein Qualm habe, was für Flechten sein Gestein. Baron Humboldt interessiere sich aus-nehmend für Vulkane, mehr als für irgend etwas anderes, das habe mit seinen Lehrern in Deutschland zu tun und mit einem Mann in Weimar, den er verehre wie Gott.

Nun stehe die krönende Unternehmung, der Chimborazo, an. Bonpland nahm einen letzten Schluck, wickelte sich fester in seine Decke und sah zu Humboldt hinüber, der, er konnte es gerade noch erkennen, mit einem Mes-singtrichter am Erdboden horchte.

Er habe ein Grollen gehört, rief Humboldt. Verschiebungen in der Erdkruste! Mit etwas Glück könne man auf einen Ausbruch hoffen.

Das wäre schön, sagte Bonpland, faltete den Brief, steckte ihn ein und streckte sich auf dem Boden aus. Er fühlte die Kälte der gefrorenen Erde auf seiner Wange.

Ihm war, als linderte sie sein Fieber.

Wie immer schlief er gleich ein, und wie meist träum-te er, daß er in Paris war, an einem Morgen im Herbst, bei sanft gegen die Scheibe trommelndem Regen. Eine Frau, die er nicht deutlich sah, fragte ihn, ob er tatsächlich geglaubt habe, durch die Tropen zu reisen, und er antwortete, nicht wirklich, und wenn, so höchstens einen Augenblick. Dann wachte er auf, weil Humboldt ihn an der Schulter rüttelte und fragte, worauf er denn warte, es sei schon vier Uhr vorbei. Bonpland stand auf, und als Humboldt sich abwandte, packte er ihn, schob ihn auf den Abgrund zu und stieß ihn mit ganzer Kraft über die Felskante. Jemand rüttelte an seiner Schulter und fragte, worauf er denn warte, es sei vier, man müsse los. Bonpland rieb sich die Augen, klopfte den Schnee von seinen Haaren und stand auf.