Die indianischen Führer betrachteten ihn schläfrig.
Humboldt reichte ihnen ein versiegeltes Kuvert. Der Abschiedsbrief an seinen Bruder. Er habe lange daran gefeilt. Falls er nicht zurückkomme, bitte er um zuverlässige Zustellung an die nächste Jesuitenmission.
Die Führer versprachen es gähnend.
Und das sei seiner, sagte Bonpland. Er sei nicht zu-geklebt, sie könnten ihn ruhig lesen, und wenn sie ihn nicht zustellten, sei es ihm auch egal.
Humboldt wies die Führer an, mindestens drei Tage auf sie zu warten. Sie nickten gelangweilt und zupften ihre Wollponchos zurecht. Gewissenhaft überprüfte er Chronometer und Teleskop. Er verschränkte die Arme und bückte eine Weile starr ins Nichts. Dann, plötzlich, ging er los. Hastig griff Bonpland nach Botanisiertrommel und Stock und lief ihm nach.
Aufgeräumt wie lange nicht, erzählte Humboldt von seiner Kindheit, der Arbeit am Blitzableiter, den einsamen Streifzügen durch die Wälder, nach denen er seine ersten Käfer zu Sammlungen geordnet habe, vom Salon der Henriette Herz. Er bedauere jeden Menschen, der solche Gefühlsbildung nicht genossen habe.
Seine Gefühlsbildung, sagte Bonpland, habe mit einem Bauernmädchen aus der Nachbarschaft stattgefunden.
Die habe fast alles zugelassen. Nur vor ihren Brüdern habe man sich hüten müssen.
Der Hund gehe ihm nicht aus dem Sinn, sagte Humboldt auf einmal. Noch immer habe er sich von der Schuld nicht befreien können. Er habe für das Tier doch Verantwortung gehabt!
Dieses Bauernmädchen sei erstaunlich gewesen. Noch keine vierzehn, habe sie Dinge beherrscht, man glaube es nicht.
Bei den Hunden in Havanna hätte das anders gelegen.
Natürlich hätten sie ihm leid getan. Aber die Wissenschaft habe es verlangt, nun wisse man mehr über das Jagdverhalten der Krokodile. Außerdem seien es Misch-linge gewesen, unedel und ziemlich räudig.
Wo sie jetzt gingen, gab es keine Pflanzen mehr, nur braungelbe Flechten auf den aus dem Schnee ragenden Steinen. Bonpland hörte sehr laut seinen eigenen Herzschlag und das Zischen des über die Schneedecke strei-chenden Windes. Als ein kleiner Schmetterling vor ihm aufflog, erschrak er.
Keuchend kam Humboldt auf die Nachricht vom Sturz Urquijos zu sprechen. Eine schlimme Sache. Noch sei es ein Gerücht, aber allmählich mehrten sich die An-zeichen, daß der Minister die Gunst der Königin verloren habe. Also weitere Jahrzehnte der Sklaverei. Nach ihrer Rückkehr werde er ein paar Dinge schreiben, die diesen Leuten nicht gefallen würden.
Der Schnee wurde höher. Bonpland rutschte aus und schlitterte bergab, nach kurzem geschah Humboldt dasselbe. Um ihre aufgeschürften Hände vor der Kälte zu schützen, wickelten sie sie in Schals. Humboldt betrachtete die Ledersohlen seiner Schuhe. Nägel, sagte er nachdenklich. Durch die Sohlen nach außen getrieben. Das brauchten sie jetzt.
Bald reichte der Schnee bis zu ihren Knien. Plötzlich schloß Nebel sie ein. Humboldt maß die Inklination det Magnetnadel und bestimmte ihre Höhe mit dem Barometer. Wenn er sich nicht irre, führe der kürzeste Gipfel-weg nordöstlich über den abgeflachten Hang, dann etwas nach links, dann steil aufwärts.
Nordöstlich, wiederholte Bonpland. In dem Nebel wisse man nicht einmal, wo die Spitze sei und wo das Tal!
Dort, sagte Humboldt und zeigte mit Entschiedenheit irgendwohin.
Vorgebeugt stapften sie an zu Säulen gespaltenen Fels-mauern entlang. Hoch droben, für Momente erkennbar, dann wieder verschwunden, führte ein verschneiter Grat zum Gipfel. Instinktiv neigten sie sich beim Gehen nach links, wo der Abhang schräg und frostverglast abfiel. Zu ihrer Rechten öffnete sich senkrecht die Schlucht. Zu-nächst war Bonpland der dunkel gekleidete Herr, der mit traurigem Gesicht an ihrer Seite stapfte, gar nicht aufgefallen. Erst als er sich in eine geometrische Figur verwandelte, eine Art schwach pulsierende Bienenwabe, wurde es unangenehm.
Dort links, fragte er. Ob da wohl etwas sei?
Humboldt warf einen kurzen Blick zur Seite. Nein.
Gut, sagte Bonpland.
Auf einer schmalen Plattform machten sie Pause, weil Bonplands Nase blutete. Beunruhigt schielte er nach der sehr langsam auf sie zuschwebenden Wabe. Er hustete und nahm einen Schluck aus seiner Messingflasche. Als das Bluten nachließ und sie weiterkonnten, war er erleichtert. Humboldts Uhr sagte ihnen, daß sie erst wenige Stunden unterwegs waren. Der Nebel war so dicht, daß es keinen Unterschied zwischen oben und unten gab: Wohin man sah, dasselbe durch nichts unterbrochene Weiß.
Jetzt reichte ihnen Schnee bis zu den Hüften. Humboldt stieß einen Schrei aus und verschwand in einer Verwehung. Bonpland grub mit den Händen, bekam seinen Gehrock zu fassen und riß ihn heraus. Humboldt klopfte den Schnee von seinen Kleidern und überzeugte sich, daß kein Instrument beschädigt war. Auf einem Steinvorsprung warteten sie, bis der Nebel dünner wurde und sich mit Helligkeit vollsog. Bald würde die Sonne durchbrechen.
Alter Freund, sagte Humboldt. Er wolle nicht sentimental werden, aber nach dem langen Weg hinter ihnen, in diesem großen Moment, müsse er doch einmal folgen-des sagen.
Bonpland lauschte. Aber nichts kam mehr. Humboldt schien es schon wieder vergessen zu haben.
Er wolle kein Spielverderber sein, sagte Bonpland, aber etwas stimme nicht. Dort rechts von ihnen, nein, etwas weiter, nein, links, richtig, dort. Das Ding, das wie ein Stern aus Watte aussehe. Oder wie ein Haus. Er gehe wohl recht in der Annahme, daß das nur für ihn da sei?
Humboldt nickte.
Bonpland fragte, ob er sich Sorgen machen müsse.
Ansichtssache, sagte Humboldt. Es liege wohl am schwächeren Druck und der veränderten Zusammenset-zung der Luft. Böse Miasmen könne man ausschließen.
Übrigens sei nicht er hier der Arzt.
Sondern wer?
Berückend, sagte Humboldt, wie stetig die Dichte des Luftmeers nach oben hin abnehme. Wenn man es hochrechne, könne man ableiten, an welchem Punkt das Nichts beginne. Oder wo, des sinkenden Siedepunkts wegen, das Blut in den Adern anfange zu kochen. Was ihn selbst betreffe, so sehe er zum Beispiel seit einer ganzen Weile den verlorenen Hund. Er sehe zerzaust aus, und ihm fehle ein Bein und ein Ohr. Außerdem sinke er nicht im Schnee ein, und seine Augen seien sehr schwarz und tot. Es sei kein schöner Anblick, er müsse sich arg zusammennehmen, um nicht zu schreien. Und dauernd beschäftige ihn das Versäumnis, daß sie dem Tier keinen Namen gegeben hätten. Aber es sei nicht nötig gewesen, sie hätten doch nur diesen Hund gehabt, oder?
Er wisse von keinem anderen, sagte Bonpland.
Humboldt nickte beruhigt, sie stiegen weiter. Wegen der Felsspalten unter dem Schnee mußten sie langsam gehen. Einmal lichtete sich für Sekunden der Nebel, gab eine Schlucht neben ihnen frei und verhüllte sie wieder.
Dieses Zahnfleischbluten, sagte Humboldt vorwurfsvoll zu sich selbst, das sei doch kein Zustand, schämen müsse man sich!
Auch Bonplands Nase blutete wieder, und in seinen Händen war trotz der Umwicklung kein Gefühl mehr. Er bat um Entschuldigung, sank auf die Knie und übergab sich.
Vorsichtig kletterten sie eine Steilwand empor. Bonpland fiel der Tag ein, als sie im Regen auf der Orinoko-insel festgesessen hatten. Wie waren sie eigentlich von dort weggekommen? Er konnte sich nicht erinnern. Gerade als er Humboldt fragen wollte, löste sich unter dessen Schuh ein Stein und traf ihn an der Schulter. Es tat so weh, daß er fast von der Wand gestürzt wäre. Er kniff die Augen zu und rieb sich Schnee ins Gesicht. Danach war ihm besser, obgleich die pulsierende Wabe noch immer neben ihm hing und, unangenehmer noch, die Steilwand jedesmal, wenn er an ihr Halt suchte, ein wenig zurück-wich. Hin und wieder blickten ihn aus dem Fels Gesichter an, verwittert, mit abfälligem oder gelangweiltem Ausdruck. Zum Glück machte der Nebel es unmöglich, in die Tiefe zu sehen.