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Damals auf der Insel, rief er. Wie seien sie eigentlich weggekommen?

Die Antwort blieb so lange aus, daß Bonpland die Frage längst wieder vergessen hatte, als Humboldt endlich den Kopf zu ihm drehte. Er wisse es beim besten Willen nicht. Wie denn?

Oberhalb der Steilwand zerriß der Nebel. Sie sahen einige Fetzen blauen Himmels und den Kegel der Bergspitze. Die kalte Luft war sehr dünn: So tief man auch ein-atmete, man bekam kaum etwas in die Lunge. Bonpland versuchte seinen Puls zu messen, aber er verzählte sich immer wieder, und schließlich gab er es auf. Sie betraten einen schmalen Steg, der bedeckt von Schnee über eine Felsspalte führte.

Voranschauen, sagte Humboldt. Nie hinunter!

Sofort sah Bonpland hinab. Ihm war, als verschöbe sich die Perspektive, der Boden der Schlucht schoß auf ihn zu, der Steg schnellte nach unten. Erschrocken klammerte er sich an seinen Stock. Die Brücke, stotterte er.

Weitergehen, sagte Humboldt.

Kein Fels, sagte Bonpland.

Humboldt blieb stehen. Es stimmte: Unter ihnen war kein Gestein. Sie standen auf einem frei hängenden Bogen aus Schnee. Er starrte hinab.

Nicht nachdenken, sagte Bonpland. Weiter.

Weiter, wiederholte Humboldt, ohne sich zu rühren.

Einfach weiter, sagte Bonpland.

Humboldt ging wieder los.

Bonpland setzte einen Fuß vor den anderen. Scheinbar stundenlang hörte er den Schnee knirschen und wußte, daß zwischen ihm und dem Abgrund nur Wasserkristalle waren. Bis zum Ende seines Lebens, mittellos und gefangen in der Einsamkeit Paraguays, konnte er sich die Bilder bis ins kleinste zurückrufen: die zerfasernden Dunst-wolkchen, die helle Luft, die Schlucht am unteren Rand seines Blickfelds. Er versuchte ein Lied zu summen, aber die Stimme, die er hörte, war nicht seine, und so ließ er es. Schlucht, Gipfel, Himmel und knirschender Schnee, und sie waren noch immer nicht angelangt. Und immer noch nicht. Bis er irgendwann doch, Humboldt wartete schon und streckte ihm die Hand entgegen, die andere Seite erreichte.

Bonpland, sagte Humboldt. Er sah klein, grau und plötzlich alt aus.

Humboldt, sagte Bonpland.

Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander.

Bonpland drückte das Taschentuch gegen seine blutende Nase. Allmählich, erst durchscheinend, dann immer deutlicher, kehrte die pulsierende Wabe zurück. Die Schneebrücke war zehn, höchstens fünfzehn Fuß lang, der Weg darüber konnte nur ein paar Sekunden gedauert haben.

Mit tastenden Schritten gingen sie den Felskamm entlang. Bonpland stellte fest, daß er eigentlich aus drei Personen bestand: Einem, der ging, einem, der dem Gehenden zusah, und einem, der alles unablässig in einer niemandem verständlichen Sprache kommentierte. Ver-suchweise gab er sich eine Ohrfeige. Das half ein wenig, und für einige Minuten dachte er klarer. Nur änderte es nichts daran, daß dort, wo der Himmel sein sollte, jetzt der Erdboden hing und sie verkehrt herum, also mit dem Kopf nach unten, abwärts stiegen.

Aber es ergebe auch Sinn, sagte Bonpland laut. Schließ-

lich seien sie auf der anderen Seite der Erde.

Humboldts Antwort konnte er nicht verstehen, sie wurde vom Gemurmel des kommentierenden Begleiters übertönt. Bonpland begann zu singen. Erst fiel der eine, dann der andere Begleiter ein. Bonpland hatte das Lied in der Schule gelernt, ziemlich sicher kannte es auf dieser Hemisphäre keiner. Ein Beweis, daß die zwei neben ihm wirklich waren und keine Hochstapler, denn wer hätte es ihnen beibringen sollen? Zwar war an diesem Gedanken etwas nicht logisch, aber er kam nicht darauf, was. Und am Ende war es auch gleichgültig, da er ja ohnehin keine Gewähr hatte, daß er es war, der dachte, und nicht einer der zwei anderen. Sein Atem ging kurz und laut, sein Herz klopfte.

Humboldt blieb abrupt stehen.

Was denn, rief Bonpland wütend.

Humboldt fragte, ob er das auch sehe.

Na aber sicher doch, sagte Bonpland, ohne zu wissen, wovon die Rede war.

Er müsse das fragen, sagte Humboldt. Er könne seinen Sinnen nicht trauen. Zudem mische der Hund sich ständig ein.

Den Hund, sagte Bonpland, habe er nie leiden können.

Diese Schlucht hier, sagte Humboldt, sei doch eine Schlucht, oder?

Bonpland sah hinab. Vor ihren Füßen fiel ein Spalt wohl vierhundert Fuß in die Tiefe. Drüben ging es weiter, und von dort schien der Gipfel nicht mehr weit.

Da kämen sie nie hinüber!

Bonpland erschrak, weil nicht er, sondern der Mann rechts von ihm das gesagt hatte. Damit es trotzdem seine Gültigkeit hatte, mußte er es wiederholen. Da kämen sie nie hinüber!

Niemals, bestätigte der Mann zu seiner Linken. Es sei denn, sie flögen.

Langsam, wie gegen einen Widerstand, ging Humboldt in die Knie und öffnete den Behälter mit dem Barometer. Seine Hände zitterten so stark, daß es fast her-untergefallen wäre. Blut lief nun auch ihm aus der Nase und tropfte auf seine Jacke. Jetzt keinen Fehler machen, sagte er beschwörend.

Sehr gern, antwortete Bonpland.

Irgendwie brachte es Humboldt fertig, ein Feuer anzu-zünden und einen kleinen Topf mit Wasser zu erhitzen.

Er könne sich nicht auf das Barometer verlassen, erklärte er, und auch nicht auf seinen Kopf, er müsse die Höhe nach dem Siedepunkt bestimmen. Seine Augen waren schmal, seine Lippen zitterten von der Anstrengung der Konzentration. Als das Wasser kochte, maß er die Temperatur und las die Uhr ab. Dann holte er den Schreibblock hervor. Er zerknüllte ein halbes Dutzend Blätter, bis seine Hand ihm soweit gehorchte, daß er Zahlen schreiben konnte.

Bonpland sah mißtrauisch in die Schlucht. Der Himmel hing tief unter ihnen und war aufgerauht. Man konnte sich einigermaßen daran gewöhnen, auf dem Kopf zu stehen. Nicht allerdings daran, daß Humboldt so langsam rechnete. Bonpland fragte, ob das heute noch etwas werde.

Verzeihung, sagte Humboldt. Ihm falle es schwer, sich zu sammeln. Ob bitte irgendwer den Hund an die Leine nehmen könne!

Den Hund, sagte Bonpland, habe er nie leiden können. Sofort schämte er sich, weil er das schon gesagt hatte. Es war ihm so peinlich, daß ihm schlecht wurde. Er beugte sich vornüber und übergab sich erneut.

Fertig, fragte Humboldt. Dann dürfe er ihm nämlich mitteilen, daß sie sich auf einer Höhe von achtzehntau-sendsechshundertneunzig Fuß befänden.

Ja halleluja, sagte Bonpland.

Das mache sie zu den Menschen, die am weitesten nach oben vorgedrungen seien. Keiner habe sich je so weit von der Meereshöhe entfernt.

Aber der Gipfel?

Mit oder ohne Gipfel, es sei der Weltrekord.

Er wolle auf den Gipfel, sagte Bonpland.

Ob er denn nicht die Schlucht sehe, schrie Humboldt.

Sie seien beide nicht mehr bei Sinnen. Wenn sie jetzt nicht abstiegen, kämen sie nie zurück.

Man könnte, sagte Bonpland, auch einfach behaupten, man wäre oben gewesen.

Humboldt sagte, er wolle das nicht gehört haben.

Er habe das auch nicht gesagt. Das sei der andere gewesen!

Überprüfen könne es ja keiner, sagte Humboldt nachdenklich.

Eben, sagte Bonpland.

Er habe das nicht gesagt, rief Humboldt.

Was gesagt, fragte Bonpland.

Sie sahen einander ratlos an.

Die Höhe sei notiert, sagte Humboldt dann. Die Gesteinsproben gesammelt. Jetzt schnell hinunter!

Der Abstieg dauerte lange. Sie mußten die Schlucht, über die sie vorhin die Schneebrücke gebracht hatte, in weitem Bogen umgehen. Doch die Sicht war jetzt klar, und Humboldt fand den Weg ohne Schwierigkeiten.