Bonpland stolperte ihm nach. Seine Knie kamen ihm unverläßlich vor. Immer wieder war ihm, als ginge er in fließendem Wasser, und eine optische Brechung verschob seine Beine auf das lästigste. Auch verhielt der Stock in seiner Hand sich ungebührlich: Er schwang aus, stach in den Schnee, betastete Felsbrocken, ohne daß Bonpland etwas anderes tun konnte, als ihm zu folgen. Die Sonne stand bereits niedrig. Humboldt rutschte ein Schotterfeld hinab. Seine Hände und sein Gesicht waren aufgeschürft, sein Mantel zerrissen, doch das Barometer war ganz geblieben.
Der Schmerz habe auch sein Gutes, sagte er mit zu-sammengebissenen Zähnen. Für den Moment sehe er wieder klar. Der Hund sei verschwunden.
Den Hund, sagte Bonpland, habe er wirklich nie leiden können.
Sie müßten es heute noch schaffen, sagte Humboldt.
Die Nacht werde kalt. Sie seien verwirrt. Sie würden nicht überleben. Er spuckte Blut. Um den Hund tue es ihm leid. Den habe er geliebt.
Da sie gerade aufrichtig seien, sagte Bonpland, und man morgen alles auf die Höhenkrankheit schieben könne, wolle er wissen, was Humboldt dort auf der Schneebrücke gedacht habe.
Er habe sich das Nichtdenken befohlen, sagte Humboldt. Also habe er nichts gedacht.
Wirklich gar nichts?
Nicht das geringste.
Bonpland blinzelte in Richtung der allmählich ver-blassenden Bienenwabe. Zwei seiner Begleiter waren davongegangen. Einen mußte er noch loswerden. Vielleicht war das auch gar nicht nötig. Er hatte den Verdacht, daß er es selbst war.
Sie beide, sagte Humboldt, hätten den höchsten Berg der Welt bestiegen. Das werde bleiben, was auch immer in ihrem Leben noch geschehe.
Nicht ganz bestiegen, sagte Bonpland.
Unsinn!
Wer einen Berg besteige, erreiche die Spitze. Wer die Spitze nicht erreiche, habe den Berg nicht bestiegen.
Humboldt betrachtete schweigend seine blutenden Hände.
Dort auf der Brücke, sagte Bonpland, habe er auf einmal bedauert, als zweiter gehen zu müssen.
Das sei nur menschlich, sagte Humboldt.
Aber nicht bloß, weil der erste früher in Sicherheit sei.
Ihm seien seltsame Vorstellungen gekommen. Wäre er der erste gewesen, etwas in ihm hätte gern der Brücke, sobald er hinüber gewesen wäre, einen Tritt versetzt. Der Wunsch sei stark gewesen.
Humboldt antwortete nicht. Er schien in eigene Gedanken versunken.
Bonplands Kopf tat weh, auch fühlte er wieder sein Fieber. Er war todmüde. Es würde lange dauern, bis er sich von diesem Tag erholt hätte. Wer weit reise, sagte er, erfahre viele Dinge. Ein paar davon über sich selbst.
Humboldt bat um Entschuldigung. Er habe leider nichts verstanden. Der Wind!
Bonpland schwieg ein paar Sekunden. Nichts Wichtiges, sagte er dankbar. Geschwätz, Gerede.
Na dann, sagte Humboldt mit unbewegtem Gesicht.
Kein Grund zum Trödeln!
Zwei Stunden später stießen sie auf ihre wartenden Führer. Humboldt verlangte seinen Brief zurück und zerriß ihn sofort. In diesen Dingen dürfe man nicht nachlässig sein. Nichts sei peinlicher als ein Abschiedsschrei-ben, dessen Verfasser noch lebe.
Ihm sei es egal, sagte Bonpland und hielt sich den schmerzenden Kopf. Sie sollten den seinen behalten oder wegwerfen, sie könnten ihn auch abschicken.
In der Nacht schrieb Humboldt, zum Schutz gegen das Schneetreiben zusammengekauert unter einer Decke, zwei Dutzend Briefe, in denen er Europa die Mitteilung machte, daß von allen Sterblichen er am höchsten gelangt sei. Sorgfältig versiegelte er jeden einzelnen. Dann" erst schwanden ihm die Sinne.
Der
Garten
Am späten Abend klopfte der Professor an die Tür des Herrenhauses. Ein junger, hagerer Diener öffnete und sagte, Graf von der Ohe zur Ohe empfange nicht.
Gauß bat ihn, den Namen zu wiederholen.
Der Diener tat es: Graf Hinrich von der Ohe zur Ohe.
Gauß mußte lachen.
Der Diener betrachtete ihn mit einem Ausdruck, als wäre er in einen Kuhfladen getreten. Die Familie des gnä-
digen Herrn heiße seit tausend Jahren so.
Deutschland sei schon ein spaßiger Fleck, sagte Gauß.
Wie auch immer, er komme wegen der Landvermessung. Hindernisse seien wegzuräumen, der Staat müsse Herrn ... Er lächelte. Der Staat müsse dem Herrn Grafen einige Bäume und einen wertlosen Schuppen abkaufen.
Eine reine Formsache, die man schnell hinter sich bringen könne.
Vielleicht könne man, sagte der Diener. Aber gewiß nicht mehr heute abend.
Gauß blickte auf seine schmutzigen Schuhe. Er hatte es befürchtet. Gut, dann übernachte er hier, man solle ihm ein Zimmer richten!
Er glaube nicht, daß Platz sei, sagte der Diener.
Gauß nahm seine Samtkappe ab, wischte sich über die Stirn und fingerte an seinem Kragen. Er fühlte sich un-wohl und verschwitzt. Sein Magen schmerzte. Dies sei ein Mißvetständnis. Er komme nicht als Bittsteller. Er sei Leiter der staatlichen Meßkommission, und wenn man ihn von der Schwelle weise, kehre er in Begleitung wieder. Ob man ihn verstehe?
Der Diener trat einen Schritt zurück.
Ob man ihn verstehe?
Jawohl, sagte der Diener.
Jawohl, Herr Professor!
Herr Professor, wiederholte der Diener.
Und jetzt wünsche er den Grafen zu sehen.
Der Diener runzelte die Brauen so stark, daß seine ganze Stirn zerknitterte. Er habe sich offenbar nicht klar ausgedrückt. Der gnädige Herr habe sich schon zurück-gezogen. Er schlafe!
Nur einen Moment, sagte Gauß.
Der Diener schüttelte den Kopf.
Schlaf sei kein Schicksal. Wer schlafe, den könne man wecken. Je länger er hier stehen müsse, desto später komme der Graf wieder in die Federn, und seine eigene Laune bessere es auch nicht gerade. Er sei hundemüde.
Mit heiserer Stimme bat der Diener, ihm zu folgen.
Er trug den Kerzenhalter so schnell voran, als hoffte er, Gauß davonlaufen zu können. Schwer wäre es nicht gewesen: Gauß’ Füße schmerzten, das Leder seiner Schuhe war zu hart, unter seinem Wollhemd juckte es, und ein Brennen im Nacken zeigte ihm, daß er sich einen neuen Sonnenbrand geholt hatte. Sie gingen durch einen niedrigen Gang mit bläßlichen Tapeten. Eine Magd mit hübscher Figur trug einen Nachttopf vorbei, Gauß sah ihr wehmütig nach. Sie kamen eine Treppe hinunter, dann wieder hinauf, dann wieder hinunter. Die Anlage sollte wohl Besucher verwirren, und vermutlich funktionierte das bei Leuten ohne geometrische Vorstellungskraft ganz gut. Gauß überschlug, daß sie jetzt etwa zwölf Fuß über und vierzig Fuß westlich vom Haupttor waren und sich in südwestlicher Pachtung bewegten. Der Diener klopfte an eine Tür, öffnete, sagte ein paar Worte ins Innere und ließ Gauß eintreten. In einem Schaukelstuhl saß ein alter Mann im Schlafrock mit Holzpantoffeln. Er war groß, hatte hohle Wangen und stechende Augen.
Von der Ohe zur Ohe, angenehm. Worüber lachen Sie?
Er lache nicht, sagte Gauß. Er sei der staatliche Landvermesser. Er lache nie und habe sich bloß vorstellen wollen und für die Gastfreundschaft bedanken.
Der Graf fragte, ob er deshalb geweckt worden sei.
Genau deshalb, sagte Gauß. Jetzt wünsche er eine gute Nacht! Zufrieden folgte er dem Diener eine weitere Treppe hinunter und einen besonders stickigen Gang entlang.
Diese Leute würden ihn nie wieder wie einen Domestiken behandeln!
Sein Triumph hielt nicht lange an. Der Diener brachte ihn in ein fürchterliches Loch. Es stank, auf dem Boden lagen Reste von fauligem Heu, ein Holzbrett diente als Bett, zum Waschen war ein rostiger Eimer mit nicht ganz sauberem Wasser gefüllt, ein Abort nicht zu sehen.
Er habe ja schon einiges erlebt, sagte Gauß. Vor zwei Wochen habe ein Bauer ihm seine Hundehütte angebo-ten. Aber die sei schöner gewesen als das hier.
Das möge sein, sagte der Diener, bereits im Gehen.
Aber etwas anderes gebe es nicht.