Stöhnend zwängte sich Gauß auf die Holzpritsche.
Das Kissen war hart und roch nicht gut. Er legte seine Mütze darauf, aber das half nicht. Lange konnte er nicht einschlafen. Sein Rücken tat weh, die Luft war schlecht, er fürchtete sich vor Geistern, und wie jeden Abend fehlte ihm Johanna. Da war man einen Moment nicht aufmerksam gewesen, und schon hatte man ein Amt, zog durch die Wälder und verhandelte mit Bauern um ihre schiefen Bäume. Heute nachmittag erst hatte er für eine alte Birke das Fünffache ihres Wertes bezahlt. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis seine Helfer endlich den störrischen Stamm durchgesägt hatten und er Eugens Leuchtsignal mit dem Theodoliten anpeilen konnte. Natürlich hatte der Esel zunächst in die falsche Richtung geblinkt! Morgen würden sie sich treffen, und er mußte sich darum kümmern, wie man von dort in höchstens zwei Geraden zum nächsten Knotenpunkt kam. Das war jetzt sein Beruf. Das astronomische Buch war längst erschienen, von der Universität war er beurlaubt. Immerhin war die Arbeit gut bezahlt, und wenn man nicht dumm war, konnte man auf verschiedene Arten noch ein wenig nebenbei verdienen. Über diesen Gedanken schlief er ein.
Am frühen Morgen weckte ihn ein quälender Traum.
Er sah sich selbst auf der Pritsche liegen und davon träumen, daß er auf der Pritsche lag und davon träumte, auf der Pritsche zu liegen und zu träumen. Beklommen setz-
’te er sich auf und wußte sofort, daß das Erwachen noch vor ihm lag. Dann wechselte er in wenigen Sekunden von einer Wirklichkeit in die nächste und wieder nächste, und keine hatte etwas Besseres zu bieten als dasselbe verdreckte Zimmer mit Heu auf dem Boden und einem Wassereimer in der Ecke. Einmal stand eine hohe, ver-schattete Gestalt in der Tür, ein andermal lag ein toter Hund in der Ecke, dann hatte sich ein Kind mit einer hölzernen Maske hereinverirrt, aber bevor er es deutlich sehen konnte, war es schon wieder weg. Als er schließlich erschöpft auf dem Bettrand saß und in den sonnigen Morgenhimmel sah, konnte er das Gefühl nicht loswerden, daß er jene Wirklichkeit, in die er gehörte, um einen Schritt verfehlt hatte. Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und dachte an Eugen, den er am Nachmittag treffen würde. Üblicherweise besserte es seine Laune, wenn er ihn anschreien konnte. Er kleidete sich an und ging gähnend hinaus.
Er kam durch Zimmerfluchten mit von der Zeit recht mitgenommenen Gemälden: ernste Männer, ungelenk gemalt, die Farbe zu dick aufgetragen. Möbel aus flecki-gem Holz, viel Staub. Nachdenklich blieb er vor einem Spiegel stehen. Ihm gefiel nicht, was er sah. Er öffnete einige Schubladen, sie waren leer. Erleichtert fand er eine Gittertür in den Garten.
Dieser war mit erstaunlicher Sorgfalt angelegt: Palmen, Orchideen, Orangenbäume, bizarr geformte Kakteen und allerlei Pflanzen, die Gauß noch nicht einmal auf Bildern gesehen hatte. Kies knirschte unter seinen Schuhen, eine Liane streifte ihm die Mütze vom Kopf.
Es duftete süßlich, zerplatzte Früchte lagen auf dem Boden. Der Bewuchs wurde dichter, der Weg schmaler, er mußte geduckt gehen. Was für eine Verschwendung! Er hoffte nur, daß es hier nicht auch noch ftemdartige Insekten gab. Als er sich zwischen zwei Palmenstämmen hindurchschob, blieb er mit der Jacke hängen und wäre fast in einen Dornenstrauch gestolpert. Dann stand er auf einer Wiese. In einem Lehnstuhl, noch immer im Schlafrock, mit wirrem Haar und nackten Füßen, saß der Graf und trank Tee.
Beeindruckend, sagte Gauß.
Früher sei es viel schöner gewesen, sagte der Graf. Gar-tenpersonal sei heute teuer, und die französische Einquar-tierung habe viel zerstört. Erst seit kurzem sei er wieder hier. Er sei in der Schweiz gewesen, ein Ausgewanderter, jetzt hätten die Dinge sich vorübergehend geändert. Ob der Herr Geodät sich nicht setzen wolle?
Gauß sah sich um. Es gab nur einen Stuhl, und in dem saß der Graf. Nicht unbedingt, sagte er zögernd.
Ja nun, sagte der Graf. Dann könne man gleich ver-handeln.
Eine bloße Formsache, sagte Gauß. Um freie Sicht auf den Scharnhorster Meßpunkt zu haben, müsse er drei Bäume des gräflichen Waldes fällen und einen offenbar seit Jahren leerstehenden Schuppen abreißen.
Scharnhorst? So weit könne doch kein Mensch sehen!
Doch, sagte Gauß, sofern man gebündeltes Licht verwende. Er habe ein Instrument entwickelt, welches Blinksignale über ungeahnt weite Strecken senden könne.
Zum erstenmal sei damit eine Verständigung zwischen Erde und Mond möglich.
Erde und Mond, wiederholte der Graf.
Gauß nickte lächelnd. Er sah genau, was sich jetzt im Kopf des alten Dummkopfs tat.
Was Bäume und Schuppen angehe, sagte der Graf, so handle es sich um eine Fehleinschätzung. Der Schuppen sei bitternotwendig. Die Bäume seien wertvoll.
Gauß seufzte. Er hätte sich gern gesetzt. Wie viele solcher Gespräche hatte er schon fuhren müssen? Natürlich, sagte er müde, aber man solle nicht übertreiben. Er wisse gut, was ein bißchen Holz und eine Hütte wert seien.
Gerade in dieser Zeit dürfe man den Staat nicht durch Unmäßigkeit belasten.
Patriotismus, sagte der Graf. Interessant. Besonders, wenn ihn jemand einfordere, der bis vor kurzem franzö-
sischer Beamter gewesen sei.
Gauß starrte ihn an.
Der Graf nippte an seinem Tee und bat, ihn nicht falsch zu verstehen. Er mache niemandem Vorwürfe. Es seien schlimme Zeiten gewesen, und jeder habe sich nach seinen Möglichkeiten verhalten.
Seinetwegen, sagte Gauß, habe Napoleon auf den Beschuß Göttingens verzichtet!
Der Graf nickte. Er sah nicht überrascht aus. Nicht jeder habe das Glück gehabt, vom Korsen geschätzt zu werden.
Und kaum einer die Verdienste, sagte Gauß.
Der Graf bückte versonnen in seine Tasse. Im Geschäftlichen jedenfalls scheine der Herr Geodät nicht so unerfahren, wie er sich gebe.
Gauß fragte, wie er das verstehen solle.
Er könne doch davon ausgehen, daß der Herr Geodät ihn in landesüblicher Konventionalmünze bezahlen werde?
Selbstverständlich, sagte Gauß.
Dann frage er sich aber, ob dem Herrn Geodät diese Ausgaben vom Staat nicht in Gold erstattet würden. Falls dem nämlich so sei, gebe es einen hübschen Kursgewinn.
Um das zu sehen, müsse man kein Mathematiker sein.
Gauß lief rot an.
Jedenfalls nicht der sogenannte Fürst der Mathematiker, sagte der Graf, der so etwas wohl kaum einfach außer acht lasse.
Gauß faltete die Hände auf dem Rücken und betrachtete die auf den Palmenstämmen wachsenden Orchideen.
Nichts davon sei gegen das Gesetz, sagte er mit gepreßter Stimme.
Kein Zweifel, sagte der Graf. Er sei sicher, der Herr Geodät habe das geprüft. Übrigens habe er große Be-wunderung für die Vermessungsarbeit. Es sei eine wunderliche Beschäftigung, monatelang mit Instrumenten herumzuziehen.
Nur wenn man es in Deutschland tue. Wer das gleiche in den Kordilleren unternehme, werde als Entdecker gefeiert.
Der Graf wiegte den Kopf. Hart sei es wohl dennoch, zumal wenn man daheim Familie habe. Der Herr Geodät habe doch Familie? Eine gute Frau?
Gauß nickte. Die Sonne kam ihm zu hell vor, und die Pflanzen beunruhigten ihn. Er fragte, ob sie über den Kauf der Bäume sprechen könnten. Er müsse weiter, seine Zeit sei knapp!
So knapp wohl auch nicht, sagte der Graf. Wenn man Verfasser der Disquisitiones Arithmeticae sei, so müsse man es eigentlich nie wieder eilig haben.
Gauß sah den Grafen verblüfft an.
Bitte keine unnötige Bescheidenheit, sagte der Graf.
Der Abschnitt über die Kreisteilung gehöre zum Bemer-kenswertesten, was er je gelesen habe. Er habe da Gedanken gefunden, von denen sogar er noch habe lernen können.
Gauß lachte auf.
Doch doch, sagte der Graf, er meine es ernst.
Es erstaune ihn, sagte Gauß, hier einen Mann mit solchen Interessen zu treffen.