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Welchem Grafen?

Gauß stöhnte. Er war von klein auf an die Trägheit der Menschen gewöhnt. Aber seinem eigenen Sohn konnte er sie nicht durchgehen lassen. Dummer Esel, sagte er und ging los. Bei dem Gedanken daran, wieviel noch zu tun war, wurde ihm schwindlig. Deutschland war kein Land der Städte, es war bevölkert von Bauern und ein paar kauzigen Aristokraten, es bestand aus Tausenden Wäldern und Dörfchen. Ihm war, als müßte er sie alle aufsuchen.

Die

Hauptstadt

In Neuspanien wartete der erste Reporter.

Fast hätten sie es nicht bis dorthin geschafft, weil der Kapitän des einzigen Schiffes nach Veracruz sich geweigert hatte, Ausländer an Bord zu nehmen. Pässe hin oder her, er sei Neugranadier, Spanien interessiere ihn nicht, und Urquijos Siegel sei bedeutungslos, hier sowieso und jetzt auch drüben. Bestechungsgeld hatte Humboldt aus Prinzip nicht bezahlen wollen, schließlich hatten sie es so gelöst, daß Humboldt das Geld Bonpland gegeben und dieser es dem Kapitän zugesteckt hatte.

Unterwegs hatte eine Eruption des Vulkans Cotopaxi einen Sturm ausgelöst, und da der Kapitän Humboldts Ratschläge ignoriert hatte – er mache das seit Jahren, und es widerspreche dem Seerecht, seinen Navigator zu kritisieren, Besatzungsmitglieder könnten dafür aufgeknüpft werden –, waren sie weit vom Kurs abgetrieben. Damit der Sturm nicht ungenützt vorbeiging, hatte Humboldt sich fünf Meter über der Wasseroberfläche an den Bug binden lassen, um die Höhe der von keiner Küste ge-brochenen Wellen zu messen. Einen ganzen Tag hatte er dort gehangen, von der Morgenstunde bis in die Nacht, das Okular des Sextanten vor dem Gesicht. Danach war er zwar leicht durcheinander, aber auch rot, erfrischt und fröhlich gewesen und hatte nicht begreifen können, warum die Matrosen ihn von da an für den Teufel gehalten hatten.

Am Bootssteg von Veracruz also stand ein schnurrbärtiger Mann. Er heiße Gomez und schreibe für mehrere Journale sowohl Neuspaniens als auch des Mutter-lands. Er bitte untertänig, den Herrn Grafen begleiten zu dürfen.

Nicht Graf, sagte Bonpland. Nur Baron.

Da er seine Reise selbst beschreiben wolle, komme ihm das unnötig vor, sagte Humboldt und sah Bonpland vorwurfsvoll an.

Gomez versprach, daß er ein Schatten sein werde, ein Schemen, praktisch unsichtbar, daß er jedoch alles beobachten wolle, was nach Zeugen verlange.

Humboldt bestimmte zunächst die geographische Position der Hafenstadt. Ein exakter Atlas von Neuspanien, diktierte er Gomez, während er auf dem Rücken lag und das Teleskop auf den Nachthimmel richtete, könne die Besiedlung der Kolonie fördern, die Unterwerfung der Natur beschleunigen, das Geschick des Landes in eine günstige Richtung lenken. Angeblich habe ein deutscher Astronom die Bahn eines neuen Wandelsterns berechnet.

Leider sei es unmöglich, Genaues zu erfahren, die Journale seien hier so rückständig. Manchmal wolle er heim.

Er senkte das Fernrohr und bat Gomez, die letzten beiden Sätze aus seinen Notizen zu streichen.

Sie zogen ins Gebirge. Bonpland hatte sich vom Fiebet erholt: Er sah dürrer und trotz der Sonne blaß aus, er hatte die ersten Falten und deutlich weniger Haare als noch vor ein paar Jahren. Neu war, daß er an den Fingernägeln kaute, und aus Gewohnheit hustete er noch von Zeit zu Zeit. Ihm fehlten jetzt so viele Zähne, daß ihm das Essen schwerfiel.

Humboldt dagegen schien unverändert. In alter Geschäftigkeit arbeitete er an einer Aufrißkarte des Kontinents. Er verzeichnete die Vegetationszonen, den in zunehmender Höhe absinkenden Luftdruck, das Inein-anderfließen der Gesteine im Berginneren. Um die Stein-formationen zu unterscheiden, kroch er in Felslöcher, die so klein waren, daß er mehrmals steckenblieb und Bonpland ihn an den Füßen herausziehen mußte. Er kletterte auf einen Baum, ein Ast brach ab, und Humboldt stürzte auf den mitschreibenden Gomez.

Der fragte Bonpland, was Humboldt für ein Mensch sei.

Er kenne ihn besser als irgendeinen, sagte Bonpland.

Besser als seine Mutter und seinen Vater, besser auch als sich selbst. Er habe es sich nicht ausgesucht, doch so sei es gekommen.

Und?

Bonpland seufzte. Er habe keine Ahnung.

Gomez fragte, wie lange sie schon gemeinsam unterwegs seien.

Er wisse es nicht, sagte Bonpland. Vielleicht ein Leben lang. Vielleicht länger.

Warum habe er all das auf sich genommen?

Bonpland sah ihn mit rot unterlaufenen Augen an.

Warum habe er, wiederholte Gomez, es auf sich genommen? Warum sei er der Assistent –

Nicht Assistent, sagte Bonpland. Mitarbeiter.

Warum also sei er der Mitarbeiter dieses Mannes geblieben, trotz all der Mühen und all die Jahre hindurch?

Bonpland dachte nach. Aus vielen Gründen.

Zum Beispiel?

Eigentlich, sagte Bonpland, habe er bloß immer weg-gewollt aus La Rochelle. Dann habe eines zum anderen geführt. Die Zeit vergehe so absurd schnell.

Das, sagte Gomez, sei keine Antwort.

Er müsse jetzt Kakteen zerschneiden. Bonpland wandte sich ab und erkletterte mit flinken Bewegungen die nächste Anhöhe.

Humboldt stieg unterdessen in die Mine von Taxco hinab. Einige Tage beobachtete er die Silberförderung, inspizierte die Verschalung der Stollen, beklopfte den Stein, unterhielt sich mit den Vorstehern. Mit seiner Atemmaske und der Grubenlampe sah er aus wie ein Dä-

mon. Wo immer er auftauchte, fielen die Arbeiter auf die Knie und riefen Gott um Hilfe an. Mehrmals mußten die Vorarbeiter ihn vor Steinwürfen schützen.

Am meisten faszinierte ihn die Findigkeit der Arbeiter beim Diebstahl. Keiner durfte in den Förderkorb, bevor man ihn auf das genaueste untersucht hatte. Dennoch fanden sie immer wieder Wege, um Erzstücke mitzu-nehmen. Humboldt fragte, ob er sich der Wissenschaft halber an der Leibesvisitation beteiligen dürfe. Er fand Silberklumpen im Haar, in den Achselhöhlen, in den Mündern und selbst im Anus der Männer. Derlei Arbeit widerstrebe ihm, sagte er zum Bergwerksleiter, einem gewissen Don Fernando García Utilla, der ihm träumerisch zusah, wie er den Bauchnabel eines kleinen Jungen betastete; allein, die Wissenschaft und die Staatswohlfahrt verlangten es. Ein geregeltes Ausbeuten der Schätze der tiefen Erde sei nicht denkbar, wenn man nicht den Ein-zelnteressen der Arbeitenden entgegenwirke. Er wiederholte den Satz, damit Gomez mitschreiben konnte. Au-

ßerdem sei es ratsam, die Anlagen zu erneuern. Es gebe zu viele Unfälle.

Man habe genug Leute, sagte Don Fernando. Wer sterbe, könne ersetzt werden.

Humboldt fragte ihn, ob er Kant gelesen habe.

Ein wenig, sagte Don Fernando. Aber er habe Einwände gehabt, Leibniz liege ihm mehr. Er habe deutsche Vorfahren, deshalb kenne er all diese schönen Phantaste-reien.

Am Tag ihrer Weiterreise standen zwei Fesselballons rund und leuchtend neben der Sonne. Das sei jetzt Mode, erklärte Gomez, jeder Mann von Stand und Mut wolle einmal mitfliegen.

Vor Jahren habe er den ersten Ballon über Deutschland gesehen, sagte Humboldt. Glücklich, wer damals geflogen sei. Als es gerade kein Wunder mehr gewesen sei und noch nichts Irdisches. Wie die Entdeckung eines neuen Sterns.

Bei Cuernavaca sprach sie ein junger Nordamerikaner an. Er hatte einen raffiniert gezwirbelten Bart, hieß Wilson und schrieb für den Philadelphia Chronicle.

Das sei ihm jetzt zuviel, sagte Humboldt.

Natürlich stünden die Vereinigten Staaten im Schatten des großen Nachbarn, sagte Wilson. Doch auch ihr junges Staatswesen habe eine Öffentlichkeit, die mit wachsendem Interesse die Taten von General Humboldt verfolge.

Bergwerksassessor, sagte Humboldt, um Bonpland zu-vorzukommen. Nicht General!

Vor der Hauptstadt legte Humboldt Galauniform an.