Eine Delegation des Vizekönigs erwartete sie mit dem Stadtschlüssel auf einer Anhöhe. Seit Paris waren sie in keiner Metropole dieser Größe gewesen. Es gab eine Universität, eine öffentliche Bücherei, einen botanischen Garten, eine Akademie der Künste und eine Bergbauakademie nach preußischem Vorbild unter der Leitung von Humboldts ehemaligem Freiberger Mitschüler Andres del Rio. Über das Wiedersehen schien der sich nicht mehr als nötig zu freuen. Er legte Humboldt die Hände auf die Schultern, hielt ihn auf Armeslänge von sich und betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen.
Also sei es wahr, sagte er in gebrochenem Deutsch.
Trotz allen Geredes.
Welchen Geredes? Seit der Begegnung mit Brombacher hatte Humboldt nicht mehr seine Muttersprache verwendet. Sein Deutsch klang hölzern und unsicher, immer wieder mußte er nach Worten suchen.
Gerüchte, sagte Andres. Etwa, daß er ein Spion der Vereinigten Staaten sei. Oder einer der Spanier.
Humboldt lachte. Ein spanischer Spion in der spanischen Kolonie?
Aber ja, sagte Andres. Lange werde man nicht mehr Kolonie sein. Drüben wisse man das, und hier wisse man es erst recht.
Nahe dem Hauptplatz hatte man begonnen, die Reste des von Cortés zerstörten Tempels auszugraben. Im Schatten der Kathedrale standen gähnende Arbeiter, der stechende Geruch von Maisfladen hing in der Luft. Auf dem Boden lagen Knochenschädel mit Edelsteinaugen, Dutzende Obsidianmesser, kunstvoll in Stein geritzte Bilder menschlicher Schlachtungen, kleine Tonfiguren mit offenem Brustkotb. Da war auch ein Steinaltar aus grob gehauenen Totenköpfen. Der Maisgeruch störte Humboldt, ihm war nicht wohl. Als er sich umdrehte, sah er Wilson und Gomez mit ihren Notizblöcken.
Er bat sie, ihn allein zu lassen, er müsse sich konzentrieren.
So arbeite ein großer Forscher, sagte Wilson.
Allein sein, um sich zu konzentrieren, sagte Gomez.
Das solle die Welt erfahren!
Humboldt stand vor einem riesigen Rad aus Stein. Ein Gewirbel aus Echsen, Schlangenköpfen und in geometrische Splitter zerbrochenen Menschenfiguren. In der Mitte ein Gesicht mit herausgestreckter Zunge und lidlosen Augen. Er sah lange hin. Allmählich ordnete sich das Chaos; er erkannte Entsprechungen, Bilder, die einander ergänzten, Symbole, die, nach feinen Gesetzmäßigkeiten wiederholt, Zahlen verschlüsselten. Das hier war ein Kalender.
Er versuchte ihn abzuzeichnen, aber es gelang nicht, und das hatte irgend etwas mit dem Gesicht in der Mitte zu tun. Er fragte sich, wo er diesem Blick schon begegnet war.
Der Jaguar fiel ihm ein, dann der Junge in der Lehmhüt-te. Beunruhigt sah er auf seinen Block. Er würde hierfür einen professionellen Zeichner brauchen. Er starrte in das Gesicht, und es lag wohl an der Hitze oder am Maisgeruch, daß er sich auf einmal abwenden mußte.
Zwanzigtausend, sagte ein Arbeiter vergnügt. Zur Einweihung des Tempels seien zwanzigtausend Menschen geopfert worden. Einer nach dem anderen: Herz raus, Kopf ab. Die Reihen der Wartenden hätten bis zum Rand der Stadt gereicht.
Guter Mann, sagte Humboldt. Reden Sie keinen Unsinn!
Der Arbeiter sah ihn beleidigt an.
Zwanzigtausend an einem Ort und Tag, das sei undenkbar. Die Opfer würden es nicht dulden. Die Zuschauer würden es nicht dulden. Ja mehr noch: Die Ordnung der Welt vertrüge derlei nicht. Wenn so etwas wirklich geschähe, würde das Universum enden.
Dem Universum, sagte der Arbeiter, sei das scheiß-
egal.
Am Abend aß Humboldt beim Vizekönig. Andres del Rio und mehrere Mitglieder der Regierung waren gekommen, ein Museumsdirektor, einige Offiziere und ein kleiner, schweigsamer Herr mit dunkler Hautfarbe und außergewöhnlich eleganter Kleidung: der Conde de Moctezuma, Ururenkel des letzten Gottkönigs und Grande des spanischen Reichs. Er bewohnte ein Schloß in Kastilien und wat geschäftehalber für ein paar Monate in der Kolonie. Seine Frau, eine großgewachsene Schönheit, sah Humboldt mit unverhohlenem Interesse an.
Zwanzigtausend sei schon richtig, sagte der Vizekönig.
Vielleicht auch mehr, die Schätzungen gingen auseinander. Unter Tlacaelel, dem letzten Hohepriester, sei das Reich ganz dem Blut verfallen.
Nicht daß das Hohepriesterdasein wünschenswert gewesen sei, sagte Andres. Man habe sich selbst regelmäßig verstümmeln müssen. Beispielsweise habe man, er bitte die Damen um Verzeihung, zu wichtigen Festen seinem Gemächt Blut abgezapft.
Humboldt räusperte sich und begann von Goethe zu sprechen, auch von seinem älteren Bruder und deren gemeinsamem Interesse für die Sprachen alter Völker.
Diese hielten sie für eine Art besseres Latein, reiner und näher am Ursprung der Welt. Er frage sich, ob das auch fürs Aztekische zutreffe.
Der Vizekönig sah fragend den Conde an.
Er könne keine Auskunft geben, sagte der, ohne von seinem Teller aufzuschauen. Er spreche nur Spanisch.
Um das Thema zu wechseln, fragte der Vizekönig Humboldt nach seiner Meinung über die Silberminen.
Ineffektiv, sagte Humboldt geistesabwesend, überall Dilettantismus und Stümperei. Er schloß einen Moment die Augen, sofort erschien das Steingesicht vor ihm. Etwas hatte ihn gesehen, das spürte er, und würde ihn nicht mehr vergessen. Nur der gewaltige Überschuß von Silber, hörte er sich sagen, erlaube die Vortäuschung von Effi-zienz. Die Mittel seien überholt, die Diebstahlsquote sei enorm, das Personal ungenügend ausgebildet.
Einige Sekunden war es still. Der Vizekönig warf dem blaß gewordenen Andres del Rio einen Blick zu.
Das sei natürlich übertrieben formuliert, sagte Humboldt, erschrocken über sich selbst. Vieles habe ihn beeindruckt!
Der Conde sah ihn schwach lächelnd an.
Neuspanien brauche einen fähigen Bergwerksminister, sagte der Vizekönig.
Humboldt fragte, an wen er da denke.
Der Vizekönig schwieg.
Unmöglich, sagte Humboldt und hob die Hände. Er sei Preuße, er könne nicht für ein anderes Land Dienst tun.
Erst später am Abend brachte er es fertig, ein paar Worte mit dem Conde zu wechseln. Leise fragte er ihn, was er über ein riesiges Kalenderrad aus Stein wisse.
Etwa fünf Ellen im Radius?
Humboldt nickte.
Mit gefiederten Schlangen, ein starres Gesicht im Mittelpunkt?
Ja, rief Humboldt.
Darüber wisse er nicht das geringste, sagte der Conde.
Er sei kein Indianer, sondern spanischer Grande.
Humboldt fragte, ob es keine Familienüberlieferung gebe.
Der Conde richtete sich zu seiner vollen Höhe auf und reichte nun bis zu Humboldts Brust. Sein Vorfahr habe sich von Cortés kidnappen lassen. Er habe um sein Leben gefleht wie eine Frau, habe gejammert und geweint und schließlich, nach Wochen der Gefangenschaft, die Seiten gewechselt. Es seien Azteken gewesen, die ihn mit Steinwürfen getötet hätten, Wenn er, der Conde de Moctezuma, jetzt auf den Hauptplatz ginge, er würde keine fünf Minuten leben. Der Conde überlegte. Vielleicht, sagte er dann, würde auch gar nichts passieren. Alles sei lange her, die Menschen erinnerten sich kaum noch. Er faßte den Ellenbogen seiner Frau und blickte mit schmalen Augen an Humboldt hinauf. Wer immer ihn treffe, forsche in seinem Gesicht nach einem Abglanz der Züge des Gottkönigs. Jeder, der seinen Namen erfahre, blicke durch ihn hindurch in die Vergangenheit. Ob Humboldt sich vorstellen könne, wie es sei, das Leben als Schatten eines großen Verwandten zu fuhren?
Manchmal könne er das, antwortete Humboldt.
Familienüberlieferung, wiederholte der Conde abfällig. Er und seine Frau gingen ohne Gruß.
Früh am Morgen bemerkte Humboldt, daß Bonpland nicht da war. Sofort machte er sich auf die Suche. Die Straßen waren voller Händler: Ein Mann verkaufte getrocknete Früchte, ein zweiter Wundermittel gegen alle Krankheiten außer der Gicht, ein dritter schlug sich mit einem Beil die linke Hand ab, welche er dann herum-geben und von der Menge untersuchen ließ, während er unter Schmerzen wartete, bis er sie zurückbekam. Er preßte sie an den Stumpf und beträufelte sie mit Tinktur.