Henriette antwortete ihnen höflich, in einer unsicheren Kinderschrift. Sie war selbst erst neunzehn. Ein Buch, das ihr der jüngere geschenkt hatte, kam ungelesen zurück: L’homme machine von La Mettrie. Dieses Werk sei verboten, ein verabscheuungswürdiges Pamphlet. Sie bringe es nicht über sich, es auch nur aufzuschlagen.
Das bedauere er, sagte der jüngere Bruder zum älteren.
Es sei ein bemerkenswertes Buch. Der Autor behaupte ernstlich, der Mensch sei eine Maschine, ein automatisch agierendes Gestell von höchster Kunstfertigkeit.
Und ohne Seele, antwortete der Ältere. Sie gingen durch den Schloßpark; der Schnee lag dünn auf kahlen Bäumen.
Nein, widersprach der Jüngere. Mit Seele. Mit Ah-nungen und poetischem Gespür für Weite und Schönheit. Doch sei diese Seele selbst nur ein Teil, wenn auch der komplizierteste, der Maschinerie. Und er frage sich, ob das nicht der Wahrheit entspreche.
Alle Menschen Maschinen?
Vielleicht nicht alle, sagte der Jüngere nachdenklich.
Aber wir.
Der Teich war zugefroren, die Dämmerung des Spätnachmittags färbte Schnee und Eiszapfen blau. Er habe ihm etwas mitzuteilen, sagte der Ältere. Man mache sich Sorgen um ihn. Seine schweigsame Art, seine Verschlos-senheit. Die schleppenden Erfolge im Unterricht. Mit ihnen beiden stehe und falle ein großer Versuch. Keiner von ihnen habe das Recht, sich gehenzulassen. Er zögerte einen Moment. Das Eis sei übrigens ganz fest.
Tatsächlich?
Aber ja.
Der Jüngere nickte, holte Luft und trat auf den See. Er überlegte, ob er Klopstocks Eislaufode rezitieren sollte.
Mit den Armen weit ausschwingend, glitt er zur Mitte. Er drehte sich um sich selbst. Sein Bruder stand leicht zurückgebeugt am Ufer und schaute ihm zu.
Auf einmal war es still. Er sah nichts mehr, und die Kälte nahm ihm fast die Sinne. Erst da begriff er, daß er unter Wasser war. Er strampelte. Sein Kopf prallte gegen etwas Hartes, das Eis. Seine Fellmütze löste sich und schwebte davon, seine Haare richteten sich auf, seine Füße schlugen auf den Boden. Jetzt hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Einen Moment lang sah er eine erstarrte Landschaft: zitternde Halme, darüber Gewächse, durchsichtig wie Schleier, einen einzelnen Fisch, eben noch da, jetzt schon weg, wie eine Täuschung. Er machte Schwimmbewegungen, stieg auf, prallte wieder gegen das Eis. Ihm wurde klar, daß er nur noch Sekunden zu leben hatte. Er tastete, und gerade als er keine Luft mehr hatte, sah er einen dunklen Fleck über sich, die Öffnung; er riß sich nach oben, atmete ein und aus und spuckte, das scharfkantige Eis zerschnitt ihm die Hände, er hievte sich empor, rollte sich ab, zog die Beine nach und lag keuchend, schluchzend da. Er drehte sich auf den Bauch und robbte auf das Ufer zu. Sein Bruder stand noch wie zuvor, zurückgebeugt, die Hände in den Taschen, die Mütze ins Gesicht gezogen. Er streckte die Hand aus und half ihm auf die Füße.
In der Nacht kam das Fieber. Er vernahm Stimmen und wußte nicht, ob sie Gestalten seiner Träume oder den Menschen gehörten, die sein Bett umringten, und immer noch spürte er die Eiseskälte. Ein Mann ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, wahrscheinlich der Arzt, und sagte, entscheide dich, gelingen oder nicht, das ist ein Entschluß, man muß dann nur durchhalten, oder? Aber als er darauf antworten wollte, erinnerte er sich nicht mehr, was gesagt worden war, statt dessen sah er ein weit ausgespanntes Meer unter einem elektrisch flackernden Himmel, und als er wieder die Augen öffnete, war es Mittag am übernächsten Tag, die Wintersonne hing bleich im Fenster, und sein Fieber hatte nachge-lassen.
Von nun an wurden seine Noten besser. Er arbeitete konzentriert und nahm die Gewohnheit an, beim Nachdenken die Fäuste zu ballen, als müsse er einen Feind besiegen. Er habe sich verändert, schrieb ihm Henriette, ein wenig mache er ihr jetzt angst. Er bat darum, eine Nacht in dem leeren Zimmer verbringen zu dürfen, aus dem man am häufigsten nächtliche Laute hörte. Am Morgen darauf war er blaß und still, und senkrecht über seine Stirn zog sich die erste Falte.
Kunth entschied, daß der ältere Bruder die Rechte und der jüngere Kameralistik studieten solle. Natürlich reiste er mit ihnen zur Universität nach Frankfurt an der Oder, begleitete sie in die Vorlesungen und überwachte ihre Fortschritte. Es war keine gute Hochschule. Wenn einer nichts könne und Doktor werden wolle, schrieb der Ältere an Henriette, solle er getrost kommen. Auch sei aus Gründen, die keiner kenne, meist ein großer Hund im Kollegium, kratze sich viel und mache Geräusche.
Beim Botaniker Wildenow sah der Jüngere zum erstenmal getrocknete Tropenpflanzen. Sie hatten füh-lerartige Auswüchse, Knospen wie Augen und Blätter, deren Oberfläche sich anfühlte wie menschliche Haut.
Aus Träumen kamen sie ihm vertraut vor. Er zerschnitt sie, machte sorgfältige Skizzen, prüfte ihre Reaktion auf Säuren und Basen und verarbeitete sie säuberlich zu Prä-
paraten.
Er wisse nun, sagte er zu Kunth, womit er sich befassen wolle. Mit dem Leben.
Das könne er nicht billigen, sagte Kunth. Man habe auf der Welt andere Aufgaben, als einfach nur dazusein.
Leben allein, das sei kein Inhalt einer Existenz.
So meine er es nicht, antwortete er. Er wolle das Leben erforschen, die seltsame Hartnäckigkeit verstehen, mit der es den Globus umspanne. Er wolle ihm auf die Schliche kommen!
Also durfte er bleiben und bei Wildenow studieren.
Im nächsten Semester wechselte der ältere Bruder an die Universität Göttingen. Während er dort seine ersten Freunde fand, zum erstenmal Alkohol trank und eine Frau berührte, schrieb der Jüngere seine erste wissenschaftliche Arbeit.
Gut, sagte Kunth, aber noch nicht gut genug, um unter dem Namen Humboldt gedruckt zu werden. Mit dem Veröffentlichen müsse man noch warten.
In den Ferien besuchte er den älteren Bruder. Auf einem Empfang des französischen Konsuls lernte er den Mathematiker Kästner kennen, dessen Freund Hofrat Zimmermann und den wichtigsten Experimentalphysiker Deutschlands, Professor Georg Christoph Lichtenberg. Dieser drückte ihm weich die Hand und starrte, bucklig, doch mit makellos schönem Gesicht, ein Klumpen aus Fleisch und Intelligenz, belustigt an ihm empor.
Humboldt fragte ihn, ob es stimme, daß er an einem Roman arbeite.
Ja und nein, antwortete Lichtenberg mit einem Blick, als sehe er etwas, von dem Humboldt selbst nichts ahne.
Das Werk heiße Über Gunkel, handle von nichts und komme überhaupt nicht voran.
Das Romanschreiben, sagte Humboldt, erscheine ihm als Königsweg, um das Flüchtigste der Gegenwart für die Zukunft festzuhalten.
Aha, sagte Lichtenberg.
Humboldt errötete. Somit sei es ein albernes Unterfangen, wenn ein Autor, wie es jetzt Mode werde, eine schon entrückte Vergangenheit zum Schauplatz wähle.
Lichtenberg betrachtete ihn mit schmalen Augen. Nein, sagte er dann. Und ja.
Auf dem Heimweg sahen die Brüder eine zweite, nur wenig größere Silberscheibe neben dem gerade aufge-gangenen Mond. Ein Heißluftballon, erklärte der ältere. Pilâtre de Rozier, der Mitarbeiter der Montgolfiers, weile zur Zeit im nahen Braunschweig. Die ganze Stadt rede davon. Bald würden alle Menschen in die Luft steigen.
Aber sie würden es nicht wollen, sagte der Jüngere. Sie hätten zuviel Angst.
Kurz vor seiner Abreise lernte er den berühmten Georg Forster kennen, einen dünnen, hustenden Mann mit ungesunder Gesichtsfarbe. Er hatte mit Cook die Welt umrundet und mehr gesehen als irgendein anderer Mensch aus Deutschland; jetzt war er eine Legende, sein Buch war weltbekannt, und er arbeitete als Bibliothekar in Mainz. Er erzählte von Drachen und lebenden Toten, von überaus höflichen Kannibalen, von Tagen, an denen das Meer so klar war, daß man meinte, über einem Abgrund zu schweben, von Stürmen, so heftig, daß man nicht zu beten wagte. Melancholie umgab ihn wie ein feiner Nebel. Er habe zuviel gesehen, sagte er. Eben davon handle das Gleichnis von Odysseus und den Sirenen.