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Eugen nickte verschwörerisch, obwohl er davon nichts wußte.

Aber sie werde kommen, sagte der andere Student, die Freiheit, trotz allem.

Sie werde sicherlich kommen, sagte Eugen.

Ungesäumt und wie ein Dieb in der Nacht, sagte der erste.

Nun wußten sie, daß sie etwas gemeinsam hatten.

Eine Stunde später waren sie auf dem Weg. Wie es unter Studenten Sitte war, ging Eugen mit dem einen von ihnen eingehängt, der andere folgte in dreißig Schritten Abstand, damit kein Gendarm sie aufhielt. Eugen verstand nicht, daß man so lange unterwegs sein konnte: Immer neue Straßen, immer noch eine Kreuzung, und auch der Vorrat an umhergehenden Leuten schien uner-schöpflich. Wohin wollten die alle, und wie konnte man so leben?

Humboldts neue Universität, erzählte der Student neben Eugen, sei die beste der Welt, organisiert wie keine andere, mit den namhaftesten Lehrern des Landes. Der Staat fürchte sie wie die Hölle.

Humboldt habe eine Universität gegründet?

Der ältere, erklärte der Student. Der anständige. Nicht der Franzosenknecht, der den Krieg über in Paris gehockt habe. Sein Bruder habe ihn öffentlich zu den Waffen gerufen, aber er habe getan, als wäre das Vaterland nichts.

Während der Besatzung habe er am Eingang seines Berliner Schlosses ein Schild anbringen lassen, man solle nicht plündern, der Eigentümer sei Mitglied der Pariser Akademie. Widerlich!

Die Straße führte steil aufwärts, dann schräg hinab. Vor einer Haustür standen zwei junge Männer und fragten nach der Losung.

Frei im Kampf.

Das sei die vom letzten Mal.

Der zweite Student trat zu ihnen. Die beiden flüsterten miteinander. Germania?

Schon lange nicht mehr.

Deutsch und frei?

Ach je. Die Wächter tauschten einen Blick. Dann sollten sie eben so hinein.

Über eine Treppe gelangten sie in einen nach Schimmel riechenden Kellerraum. Kisten standen auf dem Boden, in den Ecken stapelten sich Weinfässer. Die zwei Studenten schlugen ihre Rockaufschläge um und entblößten schwarzrote Kokarden, durchwirkt mit Goldfä-

den. Sie öffneten eine Luke im Boden. Eine enge Stiege führte in einen zweiten, tiefer gelegenen Keller.

Sechs Stuhlreihen vor einem wackligen Stehpult. An den Wänden hingen schwarzrote Wimpel, etwa zwanzig Studenten warteten schon. Alle hatten Stöcke, einige trugen polnische Mützen, andere altdeutsche Hüte. Ein paar steckten in selbstgeschneiderten Schlapphosen mit breiten, mittelalterlichen Gürteln. An den Wänden angebrachte Fackeln warfen tanzende Schatten. Eugen setzte sich, ihm war schwindlig von der schlechten Luft und der Aufregung. Man sage, flüsterte jemand, daß er selbst kommen werde. Er oder einer wie er, man wisse es nicht, er sei in Freyburg an der Unstrut festgesetzt, doch angeblich ziehe er immer wieder inkognito durchs Land.

Nicht auszudenken, wenn er es wirklich wäre. Das Herz hielte es ja nicht aus, ihn leibhaftig zu sehen.

Immer mehr Studenten trafen ein, stets in Zweiergruppen, stets eingehängt, meist über die Parole diskutierend, die offenbar keiner gewußt hatte. Hier und dort blätterte einer in einem Gedichtband oder in der Deutschen Turnkunst. Manche bewegten die Lippen wie beim Gebet. Eugens Herz klopfte stark. Längst waren alle Stühle belegt; wer jetzt noch kam, mußte sich in einen Winkel zwängen.

Ein Mann stieg mit schweren Schritten die Treppe herab, und es wurde still. Er war schlank und sehr groß, hatte eine Glatze und einen langen grauen Bart. Es war, und seltsamerweise überraschte das Eugen nicht, ihr Tisch-nachbar in der Gastwirtschaft, der sich am Vortag in ihren Streit mit dem Polizisten gemischt hatte. Langsam, die Arme schwingend, ging er zum Pult. Dort streckte er sich, wartete, bis ein Student mit zittriger Hand, denn zunächst gelang es nicht, und er mußte es mehrmals versuchen, die Kerzen darauf angezündet hatte, und sagte dann mit trockener, hoher Stimme: Meinen Namen sollt ihr nicht wissen!

Ein Student weit hinten stöhnte auf. Ansonsten war es völlig still.

Der Bärtige hob den Arm, winkelte ihn an, wies mit der anderen Hand darauf und fragte, ob man erkenne, was das sei.

Keiner antwortete, keiner atmete. So sagte er es selbst: Muskeln.

Ihr Braven, fuhr er nach einer langen Pause fort, ihr Jungen, ihr Kraftvollen, ihr müßt stärker werden! Er räusperte sich. Denn wer denken wolle, tief und we-sensberührend und bis zum Grund, habe den Körper zu straffen. Ein Denken ohne Muskeln sei schwach und matt, sei labbriges Franzosenzeug. Das Kind bete fürs Vaterland, der Jüngling schwärme, der Mann jedoch streite und leide. Er bückte sich und verharrte einen Moment, bevor er in rhythmischen Bewegungen sein Hosenbein hochkrempelte. Auch hier! Er klopfte mit der Faust an seine Wade. Rein und stark, felgaufschwungsfest, klimm-zugshart, wer wolle, könne fühlen. Er richtete sich auf und stierte ein paar Sekunden in den Raum, bevor er mit Donnerstimme schrie: Wie dieses Bein sei, so müsse Deutschland werden!

Eugen brachte es fertig, sich umzusehen. Mehreren Zuhörern stand der Mund weit offen, vielen liefen Trä-

nen über das Gesicht, einer hatte zitternd die Augen geschlossen, sein Nebenmann biß sich vor Erregung in die Finger. Eugen blinzelte. Die Luft war noch schlechter geworden, und durch das Schattenspiel der Fackeln war ihm, als wäre er Teil einer viel größeren Menge. Er bemühte sich, das in ihm aufsteigende Schluchzen zu-rückzudrängen .

Den Burschen, sagte der Bärtige, dürfe nichts beugen.

Die Stirn dem Freund, die Brust dem Feind. Was das Volk bedränge, sei nicht Feindeskraft, sondern eigene Schwäche. Eingeschnürt sei es. Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust. Könne nicht atmen, kön-ne sich nicht rühren, wisse nicht, wohin mit ureigenem Willen und braver Frömmigkeit. Fürst, Franzose und Pfaffe hielten es in Bann, in welscher Verzärtelung und Verlullung, im Daumenlutschschlaf. Burschentum aber, das sei: Zusammenstehen, keusch und fromm. Denken!

Er ballte die Faust und klopfte sich an die Stirn. Ein Denken, dessen heiliges Eintrachtsband kein Teufel zerreißen könne. Endlich werde es doch zur wahren deutschen Kirche fuhren und das Sein bezwingen. Was aber heiße das, Burschen? Er streckte die Arme aus, ging langsam in die Knie und richtete sich wieder auf. Das heiße, den Körper fassen, den Körper schulen, durch Aufschwung, Abschwung, Klimmzug und Reckbeuge, bis der Kerl ein ganzer sei. Aber wo stehe man heute? Gerade erst, ver-borgen reisend, sei er Zeuge geworden, wie ein Greis und ein Student, ein deutscher Vater und sein Sohn, zwei treue Männer, polizeischikaniert worden seien, weil sie kein Papierzeug bei sich gehabt hatten. Beherzt habe er eingegriffen, wie ein Deutscher es müsse, habe gottlob den Tyrannenbüttel überwältigt. Täglich begegne man dem Unrecht, allenthalben und überall, wer solle ihm wehren, wenn nicht gute Burschen, die Alkohol und Weib entsagt und sich der Kraft gewidmet hätten, die Deutschlands Mönche seien, frisch und fromm, fröhlich und frei? Den Franzmann habe man vertrieben, nun sei der Fürst an der Reihe, die Unheilige Allianz werde nicht lange mehr stehen, die Philosophie habe die Wirklichkeit zu packen und durchzuwalken, Herrschartszeit noch einmal! Er hieb auf das Pult, und Eugen hörte sich und die anderen Hurra rufen. Der Bärtige stand ruhig und’

hoch aufgereckt, die stechenden Augen in die Menge gerichtet. Plötzlich änderte sich seine Miene, und er wich zurück.

Eugen spürte einen Luftzug. Das Geschrei erstarb. Fünf Männer waren hereingekommen: ein kleiner Alter und vier Gendarmen.

Großer Gott, sagte Eugens Nebenmann. Der Pedell!

Er habe es ja gewußt, sagte der alte Mann zu den Gendarmen. Man habe nur beobachten müssen, wie sie alle in Zweiergruppen losmarschiert seien. Zum Glück seien die so dumm.

Drei Gendarmen blieben vor den Stufen stehen, einer ging auf das Rednerpult zu. Der Bärtige sah plötzlich viel schmaler und auch nicht mehr groß aus. Er hob die Hand über den Kopf, aber die drohende Geste mißlang, und schon trug er Handschellen.