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Seit der Rückkehr aus Paris, flüsterte Daguerre in den Applaus, sei der Baron nicht mehr der alte. Es falle ihm schwer, sich zu konzentrieren. Auch neige er zu Wieder-holungen.

Gauß fragte, ob er wirklich aus Geldmangel zurückgekommen sei.

Vor allem eines Befehls wegen, sagte Daguerre. Der König habe nicht mehr dulden wollen, daß sein berühmtester Untertan im Ausland lebe. Humboldt habe alle Briefe des Hofes mit Ausflüchten beantwortet, aber der letzte habe eine so klare Anweisung enthalten, daß er sich nur durch offenen Bruch hätte widersetzen können. Und für den, Daguerre lächelte, hätten dem alten Herrn die Mittel gefehlt. Sein lang erwarteter Reisebericht habe das Publikum enttäuscht: Hunderte Seiten voller Meßergebnisse, kaum Persönliches, praktisch keine Abenteuer. Ein tragischer Umstand, der seinen Nachruhm schmälern werde. Ein berühmter Reisender werde nur, wer gute Geschichten hinterlasse. Der arme Mann habe einfach keine Ahnung, wie man ein Buch schreibe! Jetzt sitze er in Berlin, baue eine Sternwarte, habe tausend Projekte und gehe dem ganzen Stadtrat auf die Nerven. Die jüngeren Wissenschaftler lachten über ihn.

Er wisse ja nicht, wie es in Berlin sei. Gauß stand auf.

Aber in Göttingen habe er keinen jungen Wissenschaftler getroffen, der kein Esel sei.

Sogar mit dem höchsten Berg sei es nichts, sagte Daguerre und folgte Gauß zum Ausgang. Man habe inzwischen herausgefunden, daß der Himalaja viel höhere habe. Ein schwerer Schlag für den alten Herrn. Jahrelang habe er es nicht wahrhaben wollen. Außerdem habe er sich nie davon erholt, daß seine Indienexpedition ge-scheitert sei.

Auf dem Weg zum Foyer rempelte Gauß eine Frau an, trat einem Mann auf den Fuß und schneuzte sich zweimal so laut, daß mehrere Offiziere ihn verächtlich ansa-hen. Er war es nicht gewöhnt, sich unter so vielen Menschen zu bewegen. Helfend faßte Daguerre nach seinem Ellenbogen, aber Gauß fuhr ihn an. Was ihm einfalle! Er überlegte einen Moment, dann sagte er: Salzlösung.

Aber ja, antwortete Daguerre mitleidig.

Gauß forderte ihn auf, nicht so blöd zu glotzen. Man könne Silberjodid mit gewöhnlicher Salzlösung fixieren.

Daguerre blieb abrupt stehen. Gauß schob sich durch das Getümmel auf Humboldt zu, den er am Eingang des Foyers gesehen hatte. Salzlösung, rief Daguerre hinter ihm. Wieso?

Dafür müsse man kein Chemiker sein, rief Gauß über seine Schulter, ein wenig Verstand reiche. Zögernd trat er ins Foyer, Applaus setzte ein, und hätte Humboldt ihn nicht sofort am Arm gefaßt und weitergeschoben, wäre er davongelaufen. Über dreihundert Menschen hatten auf ihn gewartet.

Die nächste halbe Stunde war eine Qual. Ein Kopf nach dem anderen schob sich vor ihn hin, eine Hand nach der anderen faßte nach der seinen und gab sie an die nächste weiter, während Humboldt ihm mit Flüsterstim-me eine sinnlose Reihe von Namen ins Ohr sagte. Gauß überschlug, daß er daheim ziemlich genau ein Jahr und sieben Monate brauchte, um so vielen Leuten zu begegnen. Er wollte nach Hause. Die Hälfte der Männer trug Uniform, ein Drittel hatte Schnurrbärte. Nur ein Sieben-tel der Anwesenden waren Frauen, nur ein Viertel davon unter dreißig, nur zwei nicht häßlich, und nur eine hätte er gern berührt, aber Sekunden nachdem sie vor ihm ge-knickst hatte, war sie schon wieder weg. Ein Mann mit zweiunddreißig Ordensspangen hielt Gauß’ Hand nachlässig zwischen drei Fingern, mechanisch machte Gauß eine Verbeugung, der Kronprinz nickte und ging weiter.

Er fühle sich nicht wohl, sagte Gauß, er müsse ins Bett.

Er bemerkte, daß seine Samtmütze abhanden gekommen war; irgend jemand hatte sie ihm abgenommen, und er wußte nicht, ob sich das so gehörte oder man ihn be-stohlen hatte. Ein Mann klopfte ihm auf die Schulter, als hätten sie sich seit Jahren gekannt, und womöglich war das auch der Fall. Während ein Uniformierter die Hak-ken zusammenschlug und ein Brillenträger im Gehrock beteuerte, das sei der größte Moment seines Daseins, spürte er Tränen aufsteigen. Er dachte an seine Mutter.

Plötzlich wurde es still.

Ein dünner, alter Herr mit wächsernem Gesicht und unnatürlich aufrechter Haltung war hereingekommen.

Mit kleinen Schritten, scheinbar ohne die Beine zu bewegen, glitt er auf Humboldt zu. Beide streckten die Arme aus, faßten einandet an den Schultern und beugten den Kopf wenige Zentimeter vor, dann trat jeder einen Schritt zurück.

Welche Freude, sagte Humboldt.

In der Tat, sagte der andere.

Die Umstehenden applaudierten. Beide warteten, bis das Klatschen vorbei war, dann wandten sie sich Gauß zu.

Das, sagte Humboldt, sei sein geliebter Bruder, der Minister.

Wisse er, sagte Gauß. Man habe sich vor Jahren in Weimar kennengelernt.

Der Erzieher Preußens, sagte Humboldt, welcher Deutschland seine Universität und der Welt die gültige Theorie der Sprache geschenkt habe.

Einer Welt, sagte der Minister, deren Gestalt niemand anderer als sein Bruder dem Begreifen erschlossen habe.

Seine Hand fühlte sich kalt und leblos an, sein Blick war starr wie der einer Puppe. Überhaupt sei er schon lange kein Erzieher mehr. Nur Privatmann und Dichter.

Dichter? Gauß war froh, als er die Hand loslassen konnte.

Er diktiere seinem Sekretär jeden Tag zwischen sieben und halb acht Uhr abends ein Sonett. So halte er es seit zwölf Jahren, und das werde er fortführen bis zu seinem Ableben.

Gauß fragte, ob es gute Sonette seien.

Er sei zuversichtlich, sagte der Minister. Nun aber müsse er aufbrechen.

Sehr bedauerlich, sagte Humboldt.

Allerdings, sagte der Minister, ein wunderbarer Abend, ein großes Vergnügen.

Die beiden streckten die Arme aus und wiederholten das Ritual von vorhin. Der Minister drehte sich zur Tür"

und ging mit wohlgesetzt kleinen Schritten hinaus.

Eine unverhoffte Freude, wiederholte Humboldt.

Plötzlich sah er bedrückt aus.

Er wolle heim, sagte Gauß.

Ein wenig noch, sagte Humboldt. Das sei Gendarmeriekommandant Vogt, dem die Wissenschaft viel verdanke. Er plane, alle Berliner Gendarmen mit Kom-passen auszustatten. So könne man neue Daten über die Feldfluktuation in der Hauptstadt sammeln. Der Gendarmeriekommandant war zwei Meter groß, hatte den Schnurrbart eines Seehundes, und sein Händedruck war fürchterlich. Und das hier, fuhr Humboldt fort, sei der Zoologe Malzacher, das der Chemiker Rotter, das der Physiker Weber aus Halle mit seiner Gattin.

Erfreut, sagte Gauß, erfreut. Er war nahe am Loswei-nen. Immerhin, die junge Frau hatte ein kleines, wohlge-formtes Gesicht, dunkle Augen und ein tief ausgeschnit-tenes Kleid. Er heftete den Blick auf sie in der Hoffnung, daß ihn das aufheitern werde.

Er sei Experimentalphysiker, sagte Weber. Den elektrischen Kräften auf der Spur. Sie versuchten sich zu verbergen, aber er gebe ihnen keine Chance.

So habe er es auch gemacht, sagte Gauß, ohne die Augen von der hübschen Frau zu wenden. Mit den Zahlen.

Vor langer Zeit.

Das wisse er, sagte Weber. Er habe die Disquisitiones genauer studiert als die Bibel. Welche er allerdings nicht sehr genau studiert habe.

Die Frau hatte zarte, sehr geschwungene Brauen. Ihr Kleid ließ die Schultern nackt. Gauß fragte sich, wie es wäre, seine Lippen auf diese Schultern zu drücken.