Выбрать главу

Er träume davon, hörte er Doktor Weber aus Halle weitersprechen, daß sich einmal ein Geist wie der des Herrn Professor, also nicht ein speziell mathematischer, sondern ein universeller, der Probleme löse, wo immer sie sich darböten, der experimentellen Welterkundung widmen möge. Er habe so viele Fragen. Es sei sein größter Wunsch, sie Professor Gauß vorzutragen.

Er habe wenig Zeit, sagte Gauß.

Das möge sein, sagte Weber. Aber in aller Bescheidenheit, es sei nötig, und er sei nicht irgendwer.

Gauß sah ihn zum erstenmal an. Vor ihm stand ein junger Mann mit schmalem Gesicht und hellen Augen.

Er müsse das sagen, erklärte Weber lächelnd, um der Sache willen. Er habe die Wellenbewegungen elektrischer Felder studiert. Seine Schriften würden weithin gelesen.

Gauß fragte nach seinem Alter.

Vierundzwanzig. Weber wurde rot.

Eine schöne Frau haben Sie, sagte Gauß.

Weber dankte. Seine Frau machte einen Knicks, aber sie sah nicht verlegen aus.

Ihre Eltern sind stolz auf Sie?

Er vermute es, sagte Weber.

Er solle ihn morgen nachmittag besuchen, sagte Gauß.

Eine Stunde bekomme er, dann müsse er sich trollen.

Das werde reichen, sagte Weber.

Gauß nickte und ging zur Tür. Humboldt rief, er müsse bleiben, der König werde erwartet, aber er konnte nicht mehr, er war todmüde. Der schnurrbärtige Gendarmeriekommandant trat ihm in den Weg, jeder versuchte rechts und links und wieder rechts am anderen vorbeizukommen, und es dauerte eine peinliche Weile, bis sie es schafften. An der Garderobe stand ein warziger Mann, umringt von Studenten, und schimpfte in brei-tem Schwäbisch: Naturforscher, Besserwisser, verloren im Ansich, logikfern, geistlos, die Sterne seien auch nur Materie! Gauß lief hinaus auf die Straße.

Er hatte Magenschmerzen. Stimmte es, daß es in der Großstadt Fuhrwerke gab, die man einfach anhielt, damit sie einen heimbrachten? Aber da war keines. Es stank. Zu Hause hätte er längst im Bett gelegen, und obwohl er Minna nicht gern sah, ihre Stimme nicht hören wollte und nichts ihn so nervös machte wie ihre Anwesenheit, fehlte sie ihm aus reiner Gewohnheit. Er rieb sich die Augen. Wieso war er so alt geworden? Man ging nicht mehr gut, man sah nicht mehr richtig, und man dachte so langsam. Altern, das war nichts Tragisches. Es war lä-

cherlich.

Er konzentrierte sich und rief sich in allen Einzelheiten den Weg zurück, den Humboldts Kutsche vorhin vom Packhof Nummer vier zum Singverein genommen hatte.

Er bekam nicht mehr alle Kurven richtig zusammen, aber die Richtung schien eindeutig: schräg nach links, nordöstlich wohl. Daheim hätte er es durch einen Blick nach oben geklärt, aber in dieser Kloake konnte man keine Sterne sehen. Der lichtauslöschende Äther. Wenn man hier lebte, konnte einem solcher Blödsinn wohl einfallen!

Nach jedem Schritt sah er sich um. Er hatte Angst vor Räubern, vor Hunden und vor Dreckpfützen. Er hatte Angst, daß die Stadt so groß war, daß er nie mehr herausfinden, daß ihr Labyrinth ihn festhalten und nicht zurück nach Hause lassen würde. Aber nein, man durfte sich in nichts hineinsteigern! Eine Stadt, das waren auch nur Häuser, und in hundert Jahren würden die kleinsten größer sein als diese, und in dreihundert – er runzelte die Stirn, es war nicht leicht, eine exponentielle Wachstums-kurve zu überschlagen, wenn man nervös und traurig war und einen der Bauch schmerzte –, in dreihundert Jahren also würden in den meisten Städten mehr Menschen leben als heute in allen deutschen Staaten zusammen. Menschen wie Insekten, in Waben hausend, niederen Arbeiten nachgehend, Kinder zeugend und sterbend. Natürlich würde man die Leichen verbrennen müssen, kein Fried-hof könnte das fassen. Und all die Exkremente? Er nieste und fragte sich, ob er nun auch noch krank wurde.

Als sein Gastgebet zwei Stunden später heimkam, fand er Gauß im großen Lehnsessel, pfeiferauchend, die Füße auf einem mexikanischen Steintischchen.

Wohin er so plötzlich verschwunden sei, rief Humboldt, man habe ihn gesucht, habe das Schlimmste vermutet, ein vorzügliches Buffet habe es auch gegeben! Der König sei enttäuscht gewesen.

Ums Buffet tue es ihm leid, sagte Gauß.

Das sei doch keine Art. Viele Leute seien eigens angereist. Das könne man nicht tun!

Dieser Weber gefalle ihm, sagte Gauß. Aber licht-schluckender Äther. So ein Unsinn.

Humboldt verschränkte die Arme.

Occam’s razor, sagte Gauß. Die Anzahl der zu einer Erklärung nötigen Annahmen sei so klein wie möglich zu halten. Im übrigen sei der Raum zwar leer, aber ge-krümmt. Die Sterne wanderten durch ein sehr unheimliches Gewölbe.

Schon wieder, sagte Humboldt. Astrale Geometrie. Er wundere sich, daß ein Mann wie Gauß diese seltsame Richtung vertrete.

Tue er nicht, sagte Gauß. Er habe früh beschlossen, nie darüber zu publizieren. Er habe keine Lust gehabt, sich dem Gespött auszusetzen. Zu viele Leute hielten ihre Gewohnheiten für Grundregeln der Welt. Er ließ zwei Rauchwölkchen an die Decke steigen. Was für ein Abend!

Fast hätte er nicht heimgefunden, und um von dem faulen Personal hereingelassen zu werden, habe er das ganze Haus wachläuten müssen. So dreckige Straßen gebe es kein zweites Mal.

Er sei vermutlich etwas weiter herumgekommen, sagte Humboldt scharf. Und er versichere ihm, es gebe drek-kigere. Und es sei ein großer Fehler, sich einfach zu ent-fernen, wenn so viele Leute zusammenkämen, mit denen man Projekte in die Welt setzen könne.

Projekte, schnaubte Gauß. Gerede, Pläne, Intrigen.

Palaver mit zehn Fürsten und hundert Akademien, bis man irgendwo ein Barometer aufstellen dürfe. Das sei nicht Wissenschaft.

Ach, rief Humboldt, was sei Wissenschaft denn dann?

Gauß sog an der Pfeife. Ein Mann allein am Schreibtisch. Ein Blatt Papier vor sich, allenfalls noch ein Fernrohr, vor dem Fenster der klare Himmel. Wenn dieser Mann nicht aufgebe, bevor er verstehe. Das sei vielleicht Wissenschaft.

Und wenn dieser Mann sich auf Reisen mache?

Gauß zuckte die Schultern. Was sich in der Ferne verstecke, in Löchern, Vulkanen oder Bergwerken, sei Zufall und unwichtig. Die Welt werde so nicht klarer.

Dieser Mann am Schreibtisch, sagte Humboldt, brauche natürlich eine fürsorgliche Frau, die ihm die Füße wärme und Essen koche, sowie folgsame Kinder, die seine Instrumente putzten, und Eltern, die ihn wie ein Kind versorgten. Und ein sicheres Haus mit gutem Dach gegen den Regen. Und eine Mütze, damit ihm nie die Ohren schmerzten.

Gauß fragte, wen er damit meine.

Er meine das ganz allgemein.

In diesem Falclass="underline" Ja, all das brauche er und mehr. Wie solle es ein Mann sonst aushalten?

Der Diener, bereits im Schlafrock, trat herein.

Humboldt fragte, was das für Sitten seien, ob er nicht klopfen könne?

Der Diener reichte ihm ein Blatt Papier. Das sei eben abgegeben worden, von einem Straßenjungen. Es scheine wichtig.

Uninteressant, sagte Humboldt. Er nehme nicht von irgend jemandem nächtliche Briefe entgegen. Das sei ja wie in einem Stück von Kotzebue! Widerwillig entfaltete er das Papier und las. Merkwürdig, sagte er. Ein Gedicht.

Unbeholfen gereimt. Etwas über die Bäume, den Wind und das Meer. Ein Raubvogel komme auch vor und ein König aus dem Mittelalter. Dann breche es ab. Offenbar mangels eines Reimworts auf Silber.

Der Diener bat ihn, das Blatt umzudrehen.

Humboldt tat es und las. Großer Gott, sagte er leise.

Gauß setzte sich auf.

Offenbar sei der junge Herr Eugen in Schwierigkeiten geraten. Diesen Zettel habe er aus dem Polizeigefängnis geschmuggelt.

Gauß blickte reglos an die Decke.

Das sei wirklich nicht angenehm, sagte Humboldt. Er sei immerhin Staatsbeamter.

Gauß nickte.

Und helfen könne er auch nicht. Die Dinge würden ihren Gang nehmen. Übrigens könne man sich auf die preußische Justiz verlassen, da geschehe kein Unrecht.