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Wer nichts begangen habe, könne vertrauen.

Gauß betrachtete seine Pfeife.

Beschämend sei das, sagte Humboldt, sehr unerfreulich.

Immerhin handle es sich um seinen Gast.

Mit dem Jungen sei nie etwas anzufangen gewesen, sagte Gauß. Er schob sich den Pfeifenstiel zwischen die Lippen.

Eine Weile schwiegen sie. Humboldt trat ans Fenster und sah in den dunklen Hof hinunter.

Was könne man schon tun?

Ja, sagte Gauß.

Es sei ein langer Tag gewesen, sagte Humboldt. Sie seien beide müde.

Und nicht mehr die Jüngsten, sagte Gauß.

Humboldt ging zur Tür und wünschte eine gute Nacht.

Er rauche noch die Pfeife fertig, sagte Gauß.

Humboldt nahm den Kerzenleuchter mit und schloß die Tür hinter sich.

Gauß verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Das einzige Licht kam vom Glimmen seiner Pfeife. Auf der Straße rollte mit blechernem Lärm ein Fuhrwerk vorbei.

Gauß nahm die Pfeife aus dem Mund und drehte sie zwischen den Fingern. Er spitzte die Lippen und horchte in die Luft. Schritte näherten sich, die Tür flog auf.

So gehe das nicht, rief Humboldt. Er könne das nicht hinnehmen!

So, sagte Gauß.

Aber man habe wenig Zeit. Heute nacht sei Eugen noch in der Obhut det Gendarmen. Morgen früh werde ihn die Geheimpolizei vernehmen, dann sei nichts mehr aufzuhalten. Wenn sie ihn herausholen wollten, müsse es jetzt sein.

Gauß fragte, ob er wisse, wie spät es sei.

Humboldt starrte ihn an.

Er sei seit Jahren nicht um diese Zeit unterwegs gewesen! Wenn er es recht bedenke, überhaupt noch nie.

Humboldt stellte ungläubig den Kerzenhalter ab.

Na gut. Gauß legte schnaufend die Pfeife weg und stand auf. Das werde ihn unfehlbar noch kränker machen.

Auf ihn wirke er recht gesund, sagte Humboldt.

Das reiche jetzt, rief Gauß. Es sei alles schon schlimm genug. Er müsse sich nicht auch noch beleidigen lassen!

Die

Geister

Gendarmeriekommandant Vogt war ausgegangen. Seine Frau, gewickelt in einen wollenen Hausrock, Gesicht und Haare noch wirr vom Schlaf, sagte ihnen, er sei nach dem Empfang in der Singakademie kurz heimgekommen und dann weggerufen worden, offenbar habe es Verhaftungen gegeben. Kurz vor Mitternacht sei er noch einmal zurückgekehrt, habe sich zivil gekleidet und sei wieder losgefahren. Er halte das einmal die Woche so. Nein, wohin wisse sie nicht.

Da sei wohl nichts zu machen, sagte Humboldt. Er verbeugte sich und wollte gehen.

Er meine schon, sagte Gauß.

Beide sahen ihn fragend an.

Er meine schon, daß man da etwas machen könne.

Humboldt sei eben nie verheiratet gewesen und wisse nicht, wie das ablaufe. Eine Frau, deren Mann einmal die Woche nachts weggehe, wisse sehr genau, wo er stecke, und wenn er es nicht verrate, dann erfahre sie es trotzdem. Sie könne jetzt zwei alten Herren einen großen Gefallen tun.

Sie dürfe wirklich nichts sagen, murmelte Frau Vogt.

Gauß trat einen Schritt näher, legte die Hand auf ihren Arm und fragte, warum sie es ihnen so schwer mache. Ob er und sein Freund wie Denunzianten aussä-

hen, wie Leute, die kein Geheimnis bewahren könnten?

Er senkte den Kopf und lächelte sie an. Es sei wirklich wichtig.

Aber niemand dürfe wissen, daß es von ihr gekommen sei.

Das sei doch selbstverständlich, sagte Gauß.

Es sei ja nichts Verbotenes. Und auch nur seit dem Tod der Großmutter. Man vermute, daß es verstecktes Geld gebe, aber niemand wisse, wo. Da versuche man eben, was man könne.

Da sehe man es wieder, sagte Gauß, während sie die Treppe hinuntergingen. Frauen könnten nichts für sich behalten. Was einmal die Gattin wisse, erfahre jeder. Ob sie wohl kurz beim Polizeigefängnis halten könnten? Er wolle nach dem Nichtsnutz sehen.

Unmöglich, sagte Humboldt. Er dürfe sich dort nicht blicken lassen.

Der führende Republikaner Europas könne nicht das Polizeigefängnis betreten?

Gerade der führende Republikaner nicht, sagte Humboldt. Seine Position sei fragiler, als es auf den ersten Blick scheine. Auch der Ruhm sei nicht immer ein Schutz. Die Orientierung sei auf dem Orinoko leichter gewesen als in dieser Stadt. Er dämpfte die Stimme. Im Polizeigefängnis trenne die Gendarmerie die Verhafteten nur nach ihrem Stand, die Personalien aber würden erst am nächsten Morgen von der geheimen Polizei aufgenommen. Wenn sie Vogt dazu brächten, den jungen Mann sofort heimzuschicken, würde keine Spur zurückbleiben.

Mit dem Jungen sei es hoffnungslos, sagte Gauß. Dieser Weber gefalle ihm besser.

Man könne es sich nicht aussuchen, sagte Humboldt.

Wahrscheinlich nicht, sagte Gauß und schwieg, bis die Kutsche hielt.

Sie gingen durch einen schmutzigen Hof, eine Treppe hinauf. Zweimal mußten sie stehenbleiben, damit Gauß wieder zu Atem kommen konnte. Sie erreichten den vier-ten Stock, Humboldt klopfte an die Wohnungstür. Ein blasser Mann mit gezwirbeltem Spitzbart öffnete. Er trug ein goldbesticktes Hemd, Samthosen und abgenutzte Pantoffeln.

Lorenzi, sagte er. Erst nach ein paar Sekunden verstanden sie, daß er sich vorgestellt hatte.

Humboldt fragte, ob der Gendarmeriekommandant hier sei.

Der sei hier, sagte Herr Lorenzi in stockendem Deutsch, und manch anderer auch. Wer aber hereinwol-le, müsse in den Kreis treten.

Na gut, sagte Gauß.

Der Kreis dürfe nicht gebrochen werden, sagte Lorenzi, sollten Diesseits und Totenreich nicht durcheinander-kommen. Mit anderen Worten, es koste Geld.

Gauß schüttelte den Kopf, aber Humboldt steckte Lorenzi ein paar Goldmünzen zu, und dieser wich mit einer gewundenen Verbeugung zur Seite.

Der Flur war mit abgewetzten Teppichen ausgelegt.

Durch eine halboffene Tür hörte man das Jammern einer Frauenstimme. Sie gingen hinein.

Nur eine einzige Kerze erhellte das Zimmer. Menschen saßen um einen runden Tisch. Das Jammern kam von einem etwa siebzehn Jahre alten Mädchen. Sie trug ein weißes Nachthemd, ihr Gesicht war verschwitzt, die Haare klebten ihr in der Stirn. Zu ihrer Linken saß mit geschlossenen Augen Gendarmeriekommandant Vogt.

Neben ihm ein Mann mit Glatze, auch drei ältere Damen, eine Frau in Schwarz, mehrere Herren im dunklen Anzug. Das Mädchen rollte den Kopf und stöhnte.

Humboldt wollte wieder hinausgehen, Gauß hielt ihn auf. Lorenzi rückte zwei Stühle heran. Zögernd setzten sie sich an den Tisch.

Und jetzt, sagte Lorenzi, müßten alle einander an den Händen nehmen!

Nie im Leben, sagte Humboldt.

Es sei doch nicht weiter schlimm, sagte Gauß und faßte Lorenzis Hand. Wenn man sie hinauswürfe, wäre ihnen auch nicht geholfen.

Nein, sagte Humboldt.

Sonst gehe es nicht, sagte Lorenzi.

Gauß seufzte und griff nach Humboldts linker Hand, zugleich packte die Frau auf der anderen Seite, sie war ungefähr sechzig und sah wie eine verwitterte Statue aus, die rechte. Humboldt erstarrte.

Das Mädchen warf den Kopf zurück und schrie. Von den Verrenkungen verrutschte ihr Nachthemd. Gauß betrachtete sie mit hochgezogenen Brauen. Ihr Körper fuhr in die Höhe, als wollte sie aufspringen, aber die zwei Männer neben ihr hielten sie fest; sie entblößte die Zähne, verdrehte die Augen, ruckte wimmernd hin und her. Sie habe König Salomon gesehen, ächzte sie, aber er habe nicht kommen wollen, jetzt kündige sich ein anderer an.

Er halte das nicht mehr aus, sagte Humboldt.

Das sei doch eigentlich ganz lustig, sagte Gauß. Und die Kleine sei nicht übel.

Sie schrie auf, eine Zuckung ließ ihren Körper nach hinten schnellen; hätten die Männer sie nicht festge-halten, wäre sie mit ihrem Stuhl umgekippt. Dann beruhigte sie sich, legte den Kopf schief und starrte auf die Tischplatte. Einer sei hier, sagte sie. Dem lasse sein Onkel ausrichten, alles sei verziehen. Ein Sohn erwarte seine Mutter. Weiter sehe sie Bonaparte, den Teufel in Menschengestalt, wie er in der Hölle brenne. Furchtbare Lästerungen stoße er aus und wolle nicht bereuen. Sie drehte horchend den Kopf. Ihr Nachthemd stand bis unter die Brust offen. Ihre Haut glänzte feucht. Von einem anderen erblicke sie den Bruder, er sage, sein Tod sei na-türlich und in der Ordnung gewesen, man solle nicht mehr nachforschen. Von einem anderen die Mutter. Sie sei sehr enttäuscht. Sein Werk werde ohne Bedeutung sein, sie wisse jetzt, daß er nur auf ihren Tod gewartet habe, um sich davonzumachen wie ein Herumtreiber, und in der Höhle damals habe er getan, als sehe er sie nicht. Dann sei da ein Kind, das seinen Eltern mitteilen lasse, es gehe ihm den Umständen entsprechend gut, die Halle sei groß, man fliege immerzu, und wenn man sich vorsehe, werde einem kein Schmerz zugefügt. Und eine alte Frau lasse sagen, sie habe kein Geld versteckt und könne nicht helfen. Das Mädchen stöhnte, alle beugten sich vor, aber es kam nichts mehr. Sie gab einen wür-genden Laut von sich, dann hob sie den Kopf, löste mit einer leichten Bewegung ihre Hände aus dem Griff der Männer, zog ihr Nachthemd zurecht und lächelte verwirrt vor sich hin.