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Diese Laternen, sagte Gauß. Bald würden sie mit Gas funktionieren, dann werde die Nacht abgeschafft. Sie seien beide in einer zweitklassigen Zeit alt geworden. Was werde jetzt aus Eugen?

Ausschluß vom Studium. Wahrscheinlich Gefängnis.

Unter Umständen könne man eine Verbannung arran-gieren.

Gauß schwieg.

Manchmal müsse man akzeptieren, sagte Humboldt, daß man Menschen nicht helfen könne. Er habe Jahre gebraucht, um sich damit abzufinden, daß er nichts für Bonpland zu tun vermöge. Er könne sich deshalb nicht jeden Tag grämen.

Nur müsse er es Minna beibringen. Sie hänge ganz idiotisch an dem Jungen.

Was nun einmal fallen wolle, sagte Humboldt, das müsse man fallen lassen. Schön klinge das nicht, aber es sei nur die härtere Seite, die brutale gewissermaßen, des gelingenden Lebens.

Sein Leben liege hinter ihm, sagte Gauß. Er habe ein Heim, das ihm nichts bedeute, eine Tochter, die keiner wolle, und einen ins Unglück geratenen Sohn. Auch seine Mutter werde nicht mehr lange dasein. Die letzten fünfzehn Jahre habe er Hügel vermessen. Er blieb stehen und sah in den Nachthimmel. Alles in allem könne er nicht erklären, weshalb er sich so leicht fühle.

Er könne es auch nicht, sagte Humboldt. Aber ihm gehe es ähnlich.

Vielleicht sei dies und das noch möglich. Magnetismus.

Geometrie des Raumes. Sein Kopf sei nicht mehr wie früher, aber doch noch nicht unbrauchbar.

Er sei nie in Asien gewesen, sagte Humboldt. Das sei doch kein Zustand. Auf einmal frage er sich, ob es nicht ein Fehler sei, die Einladung nach Rußland auszuschla-gen.

Natürlich brauche er neue Mitarbeiter. Allein könne er es nicht mehr. Der ältere Sohn sei beim Militär, der Kleine noch zu jung, und Eugen falle aus. Aber dieser Wilhelm Weber habe ihm gefallen! Der habe auch eine hübsche Frau. In Göttingen werde eine Physikprofessur frei.

Einfach werde es nicht, sagte Humboldt. Die Regie-tung werde jeden seiner Schritte kontrollieren wollen.

Doch falls man ihn für schwach und nachgiebig halte, habe man sich geirrt. Von Indien hätten sie ihn fernge-halten. Nach Rußland werde er gehen.

Experimentalphysik, sagte Gauß. Das sei etwas Neues.

Darüber müsse er nachdenken.

Mit etwas Glück, sagte Humboldt, könne er bis nach China kommen.

Die

Steppe

Was, meine Damen und Herren, ist der Tod? Im Grunde nicht erst das Verlöschen und die Sekunden des Über-gangs, sondern schon das lange Nachlassen davor, jene sich über Jahre dehnende Erschlaffung; die Zeit, in der ein Mensch noch da ist und zugleich nicht mehr und in der er, ist auch seine Größe lange dahin, noch vorgeben kann, es gäbe ihn. So umsichtig, meine Damen und Herren, hat die Natur unser Sterben eingerichtet!

Als der Applaus zu Ende war, hatte Humboldt das Podium schon verlassen. Vor der Singakademie wartete eine Kutsche, die ihn ans Krankenbett seiner Schwägerin brachte. Sie ließ leise und ohne Schmerzen nach, halb im Schlaf und halb dämmernd, Öffnete nur noch einmal die Augen, sah zunächst Humboldt an und dann, leicht erschrocken, ihren Ehemann, als fiele es ihr schwer, die beiden zu unterscheiden. Sekunden später war sie tot.

Danach saßen die Brüder einander gegenüber, Humboldt hielt die Hand des Älteren, weil er wußte, daß die Situation das verlangte; aber für einige Zeit vergaßen sie völlig, geradezusitzen und klassische Dinge zu sagen.

Ob er sich noch an den Abend erinnere, fragte der Ältere schließlich, als sie die Geschichte von Aguirre gelesen hätten und er beschlossen habe, zum Orinoko zu ziehen?

Das Datum sei für die Nachwelt bezeugt!

Natürlich erinnere er sich, sagte Humboldt. Aber er glaube nicht mehr, daß es die Nachwelt interessieren werde, er zweifle auch an der Bedeutung der Flußreise selbst.

Der Kanal habe keine Wohlfahrt für den Kontinent gebracht, er liege verlassen und unter Mückenwolken wie je, Bonpland habe recht gehabt. Wenigstens sei ihm das Leben ohne Langeweile vergangen.

Ihm habe Langeweile nie etwas ausgemacht, sagte der Ältere. Nur allein habe er nicht sein wollen.

Er sei immer allein gewesen, sagte Humboldt, vor der Langeweile aber habe er Todesangst.

Er habe sehr darunter gelitten, sagte der Ältere, daß er nie Kanzler geworden sei, Hardenberg habe es verhindert, dabei sei es ihm doch bestimmt gewesen!

Niemand, sagte Humboldt, habe eine Bestimmung.

Man entschließe sich nur, eine vorzutäuschen, bis man es irgendwann selbst glaube. Doch so vieles passe nicht dazu, man müsse sich entsetzliche Gewalt antun.

Der Ältere lehnte sich zurück und sah ihn lange an.

Immer noch die Knaben?

Das hast du gewußt?

Immer.

Lange sprach keiner von ihnen, dann stand Humboldt auf, und sie umarmten einander so förmlich wie stets.

Sehen wir uns wieder?

Sicher. Im Fleische oder im Licht.

In der Akademie warteten seine Reisebegleiter, der Zoologe Ehrenberg und der Mineraloge Rose. Ehrenberg war klein, dick und spitzbärtig, Rose war über zwei Meter groß und schien stets feuchte Haare zu haben.

Beide trugen dicke Brillen. Der Hof hatte sie Humboldt als Assistenten beigegeben. Gemeinsam überprüften sie die Ausrüstung: das Cyanometer, das Teleskop und die Leydener Flasche von seiner Tropenreise, eine englische Uhr, die genauer ging als die alte französische, und für die Magnetmessungen ein besseres Inklinatorium, angefertigt von Gambey persönlich, sowie ein eisenfreies Zelt. Dann fuhr Humboldt ins Charlottenburger Schloß.

Er begrüße diese Reise ins Reich seines Schwieger-sohns, sagte Friedrich Wilhelm schwerfällig. Darum er-nenne er Kammerherrn Humboldt zum Wirklichen Geheimen Rat, der von nun an mit Exzellenz anzusprechen sei.

Humboldt mußte sich abwenden, so stark war seine Bewegung.

Was ist Ihnen, Alexander?

Es sei nur, sagte Humboldt schnell, wegen des Todes seiner Schwägerin.

Er kenne Rußland, sagte der König, er kenne auch Humboldts Ruf. Er wünsche keine Beschwerden! Es sei nicht nötig, über jeden unglücklichen Bauern in Tränen auszubrechen.

Er habe es dem Zaren versichert, sagte Humboldt in einem Ton, als hätte er es auswendig gelernt. Er werde sich mit der unbelebten Natur befassen, die Verhältnisse der unteren Volksklassen aber nicht studieren. Diesen Satz hatte er bereits zweimal an den Zaren und dreimal an preußische Hofbeamte geschrieben.

Daheim lagen zwei Briefe. Einer des älteren Bruders, der sich für Besuch und Beistand bedankte. Ob wir uns wiedersehen oder nicht, jetzt sind es wieder, wie im Grunde immer schon, nur wir beide. Man hat uns früh eingeschärft, daß ein Leben Publikum benötigt. Beide meinten wir, das unsere sei die ganze Welt. Nach und nach wurden die Kreise kleiner, und wir mußten begreifen, daß das eigentliche Ziel unserer Bemühungen nicht der Kosmos, sondern bloß der andere war. Deinetwegen wollte ich Minister werden, meinetwegen mußtest Du auf den höchsten Berg und in die Höhlen, für Dich habe ich die beste Universität erfunden, für mich hast Du Südamerika entdeckt, und nur Dummköpfen, die nicht verstehen, was ein Leben in Verdoppelung bedeutet, würde dafür das Wort Rivalität einfallen: Weil es Dich gab, mußte ich Lehrer eines Staates, weil ich existierte, hattest Du der Erforscher eines Weltteils zu werden, alles andere wäre nicht angemessen gewesen. Und für Angemessen-heit hatten wir immer das sicherste Gespür. Ich ersuche Dich, diesen Brief nicht mit dem Rest unserer Korre-spondenz auf die Zukunft kommen zu lassen, auch wenn Du, wie Du mir gesagt hast, von der Zukunft nichts mehr hältst.

Der andere Brief war von Gauß. Auch er schickte gute Wünsche sowie einige Formeln für die magnetischen Messungen, von denen Humboldt keine Zeile verstand.

Außerdem empfahl er, unterwegs die russische Sprache zu lernen. Er selbst habe, nicht zuletzt eines vor langer Zeit gegebenen Versprechens wegen, damit begonnen.