Es helfe nichts, sich an den Mast zu binden, auch als Davongekommener erhole man sich nicht von der Nähe des Fremden. Er finde kaum Schlaf mehr, die Erinnerungen seien zu stark. Vor kurzem habe er Nachricht bekommen, daß sein Kapitän, der große und dunkle Cook, auf Hawaii gekocht und gegessen worden sei. Er rieb sich die Stirn und betrachtete die Schnallen seiner Schuhe.
Gekocht und gegessen, wiederholte er.
Er selbst wolle auch reisen, sagte Humboldt.
Forster nickte. Mancher wolle das. Und jeder bereue es später.
Warum?
Weil man nie zurückkommen könne.
Forster empfahl ihn an die Bergbauakademie in Freiberg. Dort lehrte Abraham Werner: Das Erdinnere sei kalt und fest. Gebirge entstünden durch chemische Ausfällungen aus dem schrumpfenden Ozean der Urzeit. Das Feuer der Vulkane komme keineswegs von tief innen, es werde genährt von brennenden Kohlelagern, der Erdkern sei aus hartem Stein. Diese Lehre nannte sich Neptunismus und wurde von beiden Kirchen und Johann Wolf-gang Goethe verfochten. In der Freiberger Kapelle ließ Werner Seelenmessen für seine die Wahrheit noch leug-nenden Gegner lesen. Einmal hatte er einem zweifelnden Studenten die Nase gebrochen, angeblich einem anderen vor vielen Jahren ein Ohr abgebissen. Er war einer der letzten Alchimisten: Mitglied geheimer Logen, Kenner der Zeichen, denen die Dämonen gehorchten. Er ver-mochte Zerstörtes wieder zusammenzufügen, aus dem Rauch das zuvor Verbrannte und aus dem Zerstoßenen wieder Festes zu formen, auch hatte er mit dem Teufel gesprochen und Gold gemacht. Intelligent wirkte er dennoch nicht. Er lehnte sich zurück, kniff die Augen zusammen und fragte Humboldt, ob er Neptunist sei und ans kalte Erdinnere glaube.
Humboldt versicherte es.
Dann müsse er aber auch heiraten.
Humboldt wurde rot.
Werner blies die Backen auf, machte eine Verschwö-
rermiene und fragte, ob er einen Schatz habe.
Das behindere nur, sagte Humboldt. Man heirate, wenn man nichts Wesentliches im Leben vorhabe.
Werner starrte ihn an.
So werde behauptet, sagte Humboldt schnell. Natürlich zu Unrecht!
Ein unverheirateter Mann, sagte Werner, sei noch nie ein guter Neptunist gewesen.
Humboldt durchlief das Kurrikulum der Akademie in einem Vierteljahr. Morgens war er sechs Stunden unter der Erde, nachmittags hörte er Vorlesungen, am Abend und die Hälfte der Nacht lernte er für den nächsten Tag.
Freunde hatte er keine, und als sein Bruder ihn zu seiner Hochzeit einlud – er habe eine Frau gefunden, wie sie ihm gezieme, eine, die nicht ihresgleichen habe auf der Welt –, antwortete er höflich, daß er nicht kommen könne, ihm fehle Zeit. Er kroch durch die niedrigsten Schächte, bis er sich an seine Platzangst gewöhnt hatte wie an einen nicht nachlassenden, allmählich jedoch erträglichen Schmerz. Er stellte Temperaturmessungen an: Je tiefer man hinabstieg, desto wärmer wurde es, und das widersprach allen Lehren Abraham Werners. Ihm fiel auf, daß es noch in der tiefsten Höhlendunkelheit Vegetation gab. Das Leben schien nirgendwo aufzuhören, überall fand sich noch eine Form von Moos und Wuche-rung, irgendeine Art verkümmerter Gewächse. Sie waren ihm unheimlich, und darum zerlegte und untersuchte er sie, ordnete sie nach Klassen und schrieb eine Abhandlung darüber. Jahre später, als er ähnliche Pflanzen in der Höhle der Toten sah, war er vorbereitet.
Er machte den Abschluß und bekam eine Uniform.
Wo immer er auch hinkam, sollte er sie tragen. Sein Amtstitel war der eines Assessors beim Berg- und Hüt-tendepartement. Er schäme sich selbst, schrieb er seinem Bruder, daß er sich so darüber freue.
Wenige Monate später war er schon Preußens zuverlässigster Bergwerksinspektor. Er ließ sich durch Hütten, Torfstechereien und zu den Hochöfen der Königlichen Porzellanmanufaktur fuhren; überall erschreckte er die Arbeiter durch die Geschwindigkeit, mit der er sich Notizen machte. Er war ständig unterwegs, schlief und aß kaum und wußte selbst nicht, was all das sollte. Etwas sei an ihm, schrieb er seinem Bruder, das ihn befürchten lasse, er verliere den Verstand.
Zufällig stieß er auf Galvanis Buch über den Strom und die Frösche. Galvani hatte abgetrennte Froschschen-kel mit zwei unterschiedlichen Metallen verbunden, und sie hatten gezuckt wie lebendig. Lag das nun an den Schenkeln, in denen noch Lebenskraft war, oder war die Bewegung von außen gekommen, aus dem Unterschied der Metalle, und von den Froschteilen bloß sichtbar gemacht? Humboldt beschloß, es herauszufinden.
Er zog sein Hemd aus, legte sich aufs Bett und wies einen Diener an, zwei Aderlaßpflaster auf seinen Rük-ken zu kleben. Der Diener gehorchte, Humboldts Haut warf zwei große Blasen. Und jetzt solle er die Blasen auf-schneiden! Der Diener zögerte, Humboldt mußte laut werden, der Diener nahm das Skalpell. Es war so scharf, daß der Schnitt kaum schmerzte. Blut tropfte auf den Boden. Humboldt befahl, ein Stück Zink auf eine der Wunden zu legen.
Der Diener fragte, ob er eine Pause machen dürfe, ihm sei nicht wohl.
Humboldt bat ihn, sich nicht dumm anzustellen.
Als ein Silberstück die zweite Wunde berührte, ging ein schmerzhaftes Pochen durch seine Rückenmuskeln, bis hinauf in den Kopf. Mit zitternder Hand notierte er: Musculus cucularis, Hinterhauptbein, Stachelfortsätze des Rückenwirbelbeins. Kein Zweifel, hier wirkte Elektrizität.
Noch einmal das Silber! Er zählte vier Schläge, in regelmäßigem Abstand, dann wichen die Farben aus den Gegenständen.
Als er wieder zu sich kam, saß der Diener auf dem Boden, das Gesicht bleich, die Hände blutig.
Weiter, sagte Humboldt, und mit seltsamem Schrek-ken wurde ihm klar, daß etwas in ihm Lust empfand.
Jetzt die Frösche!
Das nicht, sagte der Diener.
Humboldt fragte, ob er sich eine neue Anstellung suchen wolle.
Der Diener legte vier tote, sorgsam gereinigte Frösche auf Humboldts blutigen Rücken. Aber jetzt reiche es, sagte er, sie seien doch Christenmenschen.
Humboldt ignorierte ihn und befahclass="underline" Wieder das Silber! Schon kamen die Schläge. Bei jedem davon, er sah es im Spiegel, sprangen die Froschleiber wie lebendig. Er biß in das Kissen, der Stoff war naß von seinen Tränen. Der Diener kicherte hysterisch, Humboldt wollte Notizen machen, aber seine Hände waren zu schwach. Mühsam stand er auf. Aus den zwei Wunden lief Flüssigkeit, so ätzend, daß sie seine Haut entzündete. Humboldt versuchte etwas davon in einem Glasröhrchen aufzufangen, aber seine Schulter war geschwollen, und er konnte sich nicht drehen. Er sah den Diener an.
Der schüttelte den Kopf.
Na gut, sagte Humboldt, dann solle er jetzt in Gottes Namen den Arzt holen! Er wischte sich das Gesicht ab und wartete, bis er wieder fähig war, die Hände zu gebrauchen und das Nötigste aufzuschreiben. Strom war geflossen, das hatte er gespürt, und entsprungen war er nicht seinem Körper und nicht den Fröschen, sondern der chemischen Feindschaft der Metalle.
Es war nicht leicht, dem Arzt zu erklären, was hier geschehen war. Der Diener kündigte in der Woche darauf, zwei Narben blieben, und die Abhandlung über die lebendige Muskelfaser als leitende Substanz begründete Humboldts wissenschaftlichen Ruf.
Er scheine verwirrt zu sein, schrieb sein Bruder aus Jena. Doch möge er bedenken, daß man moralische Ver-pflichtungen auch dem eigenen Körper gegenüber habe, der doch kein Ding unter Dingen sei; ich bitte Dich, komm! Schiller möchte Dich kennenlernen.