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Stundenlang beobachtete Gauß beim Licht einer Öllampe dieses Pendeln. Kein Laut drang zu ihm herein. So wie ihm damals die Ballonfahrt mit Pilâtre gezeigt hatte, was der Raum war, würde er jetzt irgendwann die Unruhe im Herzen der Natur verstehen. Man brauchte nicht auf Berge zu klettern oder sich durch den Dschungel zu quä-

len. Wer diese Nadel beobachtete, sah ins Innere der Welt.

Manchmal schweiften seine Gedanken zur Familie ab.

Eugen fehlte ihm, und Minna ging es schlecht, seit er weg war. Sein Jüngster würde bald mit der Schule fertig sein.

Auch der war nicht besonders intelligent, er würde wohl nicht studieren. Man mußte sich damit abfinden, man durfte die Menschen nicht überschätzen. Wenigstens verstand er sich mit Weber immer besser, und erst vor kurzem hatte ein. russischer Mathematiker ihm eine Abhandlung geschickt, in der die Vermutung geäußert wurde, daß Euklids Geometrie nicht die wahre sei und parallele Linien einander berührten. Seit er zurückgeschrieben hatte, daß ihm keiner dieser Gedanken neu war, hielt man ihn in Rußland für einen Angeber. Bei dem Gedanken, daß andere bekanntmachen würden, was er so lange schon wuß-

te, fühlte er ein ungewohntes Stechen. So alt hatte er also werden müssen, um zu lernen, was Ehrgeiz war. Hin und wieder, wenn er die Nadel anstarrte und nicht zu atmen wagte, um ihren lautlosen Tanz nicht zu stören, kam er sich wie ein Magier der dunklen Zeit vor, wie ein Alchimist auf einem alten Kupferstich. Aber warum nicht? Die Scientia Nova war aus der Magie hervorgegangen, und etwas davon würde ihr immer anhaften.

Vorsichtig faltete er die Karte Rußlands auseinander.

Man mußte Hütten wie diese über die Leere Sibiriens verteilen, bewohnt von zuverlässigen Männern, die es verstanden, auf Geräte zu achten, Stunden um Stunden vor Teleskopen zu verbringen und ein stilles, aufmerksames Leben zu fuhren. Humboldt konnte organisieren; vermutlich sogar das. Gauß dachte nach. Als er mit der Liste der geeigneten Standorte fertig war, riß sein jüngster Sohn die Tür auf und brachte einen Brief. Wind schoß herein, Blätter flogen durch die Luft, die Nadel schlug panisch aus, und Gauß gab dem Kleinen zwei Ohrfeigen, die er nicht so bald vergessen würde. Erst nach einer halben Stunde des StÜlsitzens und Wartens hatte sich der Kompaß soweit beruhigt, daß Gauß es wagte, sich zu bewegen und den Brief zu öffnen. Man müsse die Pläne ändern, schrieb Humboldt, er könne nicht, wie er wolle, man habe ihm eine Route vorgeschrieben, von der abzu-weichen ihm nicht vernünftig erscheine, auf ihr könne er messen, anderswo nicht, und er ersuche, die Berechnungen anzupassen. Gauß legte traurig lächelnd den Brief weg. Zum erstenmal tat Humboldt ihm leid.

In Moskau stockte alles. Es sei ganz unmöglich, sagte der Bürgermeister, daß sein Ehrengast schon weiterfahre.

Günstige Jahreszeit hin oder her, die Gesellschaft erwarte ihn, er könne unmöglich Moskau versagen, was er Petersburg gewährt habe. Also mußte Humboldt auch hier jeden Abend, während Rose und Ehrenberg in der Umgebung Steinproben sammelten, ein Diner besuchen; Toasts wurden ausgebracht, Frackträger riefen gläser-schwenkend Vivat, und Blasmusiker ließen verstimmte Instrumente schmettern, und teilnehmend fragte immer wieder jemand, ob Humboldt nicht wohl sei. Doch, antwortete er dann und sah nach der untergehenden Sonne, nur habe Musik ihm nie viel gesagt, und müsse es wirklich so laut sein?

Erst nach Wochen gestattete man ihnen, zum Ural weiterzufahren. Noch mehr Begleiter hatten sich angeschlossen, es dauerte allein einen Tag, bis alle Kutschen fahrbereit waren.

Das sei unglaublich, sagte Humboldt zu Ehrenberg, das werde er nicht dulden, das sei doch keine Expedition mehr!

Man könne nicht immer, wie man wolle, mischte sich Rose ein.

Und außerdem, fragte Ehrenberg, was spreche dagegen?

Alles kluge, ehrenwerte Menschen, sie könnten ihm Arbeit abnehmen, die ihm vielleicht schwerfalle. Humboldt lief rot an, aber bevor er etwas sagen konnte, setzte sich die Kutsche in Bewegung, und seine Antwort ging im Räderknirschen und Klappern der Hufe unter.

Bei Nischnij Nowgorod bestimmte er mit dem Sextanten die Breite der Wolga. Eine halbe Stunde starrte er durch das Okular, schwenkte die Alhiade, murmelte Berechnungen. Die Mitreisenden sahen respektvoll zu. Das sei, sagte Wolodin zu Rose, als erlebte man eine Reise in der Zeit, als wäre man in ein Geschichtsbuch versetzt, so erhaben sei es. Ihm sei zum Weinen!

Endlich verkündete Humboldt, daß der Fluß fünftau-sendzweihundertvierzig Komma sieben Fuß breit sei.

Aber natürlich, sagte Rose begütigend.

Zweihundertvierzig Komma neun, um genau zu sein, sagte Ehrenberg. Doch müsse er zugeben, angesichts einer so alten Methode ein ziemlich gutes Ergebnis.

In der Stadt bekam Humboldt Salz, Brot und einen goldenen Schlüssel, wurde zum Ehrenbürger ernannt, hatte den Darbietungen eines Kinderchores zuzuhören und mußte an vierzehn offiziellen und einundzwanzig privaten Empfängen teilnehmen, bevor sie mit einem Wachtschiff die Wolga hinaufdurften. Bei Kasan bestand er darauf, eine Magnetmessung durchzuführen. Auf freiem Feld ließ er das eisenfreie Zelt aufstellen, bat um Ruhe, kroch hinein und befestigte den Kompaß an den vorgesehenen Aufhängungen. Er brauchte länger als gewohnt, weil seine Hände zitterten, auch hatten seine Augen vom Wind zu tränen angefangen. Zögernd pendelte die Nadel, beruhigte sich, verharrte für einige Minuten, bis sie wieder zu pendeln begann. Humboldt dachte an Gauß, der jetzt, ein Sechstel des Erdumkreises entfernt, das gleiche tat. Der arme Mann hatte nie etwas von der Welt gesehen. Humboldt lächelte melancholisch, plötzlich tat Gauß ihm leid. Rose pochte von draußen auf die Zeltplane und fragte, ob die Möglichkeit bestehe, die Sache schneller abzuwickeln.

Auf der Weiterreise kamen sie an einem Zug Strafgefangener Frauen vorbei, eskortiert von Lanzenreitern.

Humboldt wollte anhalten und mit ihnen sprechen.

Ausgeschlossen, sagte Rose.

Ganz und gar undenkbar, stimmte Ehrenberg zu. Er klopfte ans Dach, die Kutsche nahm Fahrt auf, Minuten später hatte ihre Staubwolke den Gefangenenzug ver-schluckt.

In Perm, es war schon Routine, machten sich Ehrenberg und Rose ans Steinesammeln, während Humboldt mit dem Gouverneur zu Abend aß. Der Gouverneur hatte vier Brüder, acht Söhne, fünf Töchter, siebenundzwanzig Enkel und neun Urenkel sowie eine unklare Anzahl von Cousins. Alle waren da und wollten Geschichten über das Land jenseits des Meeres hören. Er wisse nichts, sagte Humboldt, er könne sich kaum erinnern, er wolle sehr gern zu Bett.

Am nächsten Morgen gab er Anweisung, die Sammlung zu teilen: Man brauche zwei Exemplare von jeder Probe, welche getrennt transportiert werden müßten.

Aber man arbeite längst mit geteilten Sammlungen, sagte Rose.

Schon die ganze Zeit, sagte Ehrenberg.

Kein vernünftiger Forscher mache es anders, sagte Rose.

Jeder kenne schließlich Humboldts Schriften.

Sie erreichten Jekaterinenburg. Der Kaufmann, bei dem Humboldt untergebracht war, trug wie alle Männer hier einen Bart, einen langen Überrock und einen Leibgurt. Ais Humboldt spätabends vom Empfang beim Bürgermeister heimkam, wollte sein Gastgeber mit ihm trinken. Humboldt lehnte ab, der Mann begann zu schluchzen wie ein Kind, schlug sich an die Brust und rief in schlechtem Französisch, er sei elend, elend, elend und wolle sterben.