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Es gebe keine Botschaft, rief Humboldt.

Er verstehe, sagte der Lama.

Unschlüssig verbeugte sich Humboldt, der Lama tat es ihm gleich, und sie machten sich wieder auf den Weg.

Vor Orenburg stieß eine weitere Hundertschaft Kosaken zu ihnen, um sie gegen Überfälle der Reiterhorden zu schützen. Sie waren nun über fünfzig Reisende in zwölf Kutschen, mit mehr als zweihundert Soldaten Eskorte.

Ständig fuhren sie mit höchster Geschwindigkeit, und trotz Humboldts Bitten gab es keinen Zwischenhalt.

Es sei zu gefährlich, sagte Rose.

Der Weg sei weit, sagte Ehrenberg.

Man habe viel vor, sagte Wolodin.

In Orenburg warteten drei kirgisische Sultane, die mit großem Gefolge angereist waren, um den Mann zu treffen, der alles wußte. Kleinlaut fragte Humboldt, ob er ein paar Hügel besteigen dürfe, das Gestein interessiere ihn sehr, auch habe er lange nicht den Luftdruck gemessen.

Später, sagte Ehrenberg, jetzt gebe es Spiele!

Am Abend vor der Weiterfahrt gelang es Humboldt, heimlich in seinem Schlafzimmer eine Magnetmessung durchzuführen. Am nächsten Morgen hatte er Rücken-schmerzen, von da an ging er ein wenig gebückt. Rück-sichtsvoll half Rose ihm in die Kutsche. Als sie an einem Gefangenenzug vorbeikamen, zwang er sich, nicht aus dem Fenster zu sehen.

Bei Astrachan betrat Humboldt das erste Dampfschiff seines Lebens. Zwei Motoren trieben stinkenden Rauch in die Luft, der Stahlkörper des Bootes wälzte sich schwer und widerwillig ins Meer. Die Gischt schien in der Morgendämmerung schwach zu leuchten. Auf einer winzigen Insel gingen sie an Land. Die Füße eingegrabener Taranteln ragten aus dem Sand. Wenn Humboldt sie berührte, zuck-ten sie, aber die Tiere flohen nicht. Mit fast glücklichem Ausdruck machte er einige Skizzen. Darüber werde er ein langes Kapitel in seine Reisebeschreibung aufnehmen.

Das glaube er weniger, sagte Rose. Mit der Beschreibung sei er betraut, damit brauche Humboldt sich nicht abzugeben.

Er wolle es aber selbst tun, sagte Humboldt.

Er dränge sich nicht vor, sagte Rose, aber er habe nun einmal den Auftrag des Königs.

Das Schiff legte ab, nach kurzem war die Insel außer Sicht. Dichter Nebel umgab sie, Wasser und Himmel waren nicht mehr zu unterscheiden. Nur dann und wann tauchte der bärtige Kopf eines Seehunds auf. Humboldt stand am Bug, starrte hinaus und reagierte zunächst nicht, als Rose sagte, es sei Zeit zum Zurückfahren.

Zurück wohin?

Zunächst ans Ufer, sagte Rose, dann nach Moskau, dann nach Berlin.

Also sei dies der Abschluß, sagte Humboldt, der Schei-telpunkt, die endgültige Wende? Weiter werde er nicht kommen?

Nicht in diesem Leben, sagte Rose.

Es stellte sich heraus, daß das Schiff vom Kurs abge-kommen war. Niemand hatte mit solchem Nebel gerechnet, der Kapitän führte keine Karten mit, keiner wußte, in welcher Richtung das Festland lag. Sie kreuzten ziellos, der Nebel schluckte jedes Geräusch bis auf das Stampfen der Motoren. Allmählich werde es gefährlich, sagte der Kapitän, der Treibstoff reiche nicht ewig, und wenn sie zu weit hinaus gerieten, könnte ihnen nicht einmal Gott helfen. Wolodin und der Kapitän umarmten einander, mehrere Professoren begannen zu trinken, weinerliche Hochstimmung breitete sich aus.

Rose ging zu Humboldt an den Bug. Man brauche jetzt die Hilfe des großen Navigators, ohne ihn würden sie sterben.

Und nie zurückkehren, fragte Humboldt.

Rose nickte.

Einfach verschwinden, sagte Humboldt, am Höhepunkt des Lebens aufs Kaspische Meer fahren und nie zurückkommen?

Ganz genau, sagte Rose.

Eins werden mit der Weite, endgültig verschwinden in Landschaften, von denen man als Kind geträumt habe, ein Bild betreten, davongehen und nie heimkehren?

Gewissermaßen, sagte Rose.

Dorthin. Humboldt zeigte nach links, wo das Grau etwas heller zu sein schien, durchzogen von weißlichen Schlieren.

Rose ging zum Kapitän und wies ihn in die entgegengesetzte Richtung. Eine halbe Stunde später erreichten sie die Küste.

In Moskau gab es den größten Ball, den sie bisher erlebt hatten. Humboldt erschien im blauen Frack, wurde hier- und dorthin geschoben, Offiziere salutierten vor ihm, Damen knicksten, Professoren verbeugten sich, dann wurde es still, und der Offizier Glinka trug ein Gedicht vor, das mit dem Brand Moskaus begann und mit einer Strophe über Baron Humboldt, den Pro-metheus der neuen Zeit, endete. Der Applaus dauerte über eine Viertelstunde. Als Humboldt, etwas heiser und mit zaghafter Stimme, vom Erdmagnetismus sprechen wollte, unterbrach ihn der Rektor der Universität, um ihm einen Zopf aus den Haaren Peters des Großen zu schenken. Gerede und Geschwätz, flüsterte Humboldt in Ehrenbergs Ohr, keine Wissenschaft. Er müsse Gauß unbedingt sagen, daß er jetzt besser verstehe.

Ich weiß, daß Sie verstehen, antwortete Gauß. Sie haben immer verstanden, armer Freund, mehr, als Sie wußten. Minna fragte, ob ihm nicht wohl sei. Er bat sie, ihn in Ruhe zu lassen, er habe laut gedacht. Er war in gereizter Stimmung, allein schon des lächelnden Chinesen wegen, der ihn die ganze Nacht angesehen hatte, so ein Benehmen war nicht einmal im Traum akzeptabel. Au-

ßerdem hatte er schon wieder eine Abhandlung über die astrale Geometrie des Raums zugeschickt bekommen, diesmal von niemand anderem als dem alten Martin Bartels. Also hat er mich doch nach all den Jahren überflü-

gelt, sagte er, und ihm war, als antwortete nicht Minna, sondern der bereits in einer Schnellkutsche nach Sankt Petersburg rasende Humboldt: Die Dinge sind, wie sie sind, und wenn wir sie erkennen, sind sie genauso, wie wenn es andere tun oder keiner. Wie meinen Sie das, fragte der Zar, der Humboldt gerade das Band des Sankt-Annen-Ordens hatte umhängen wollen, und hielt in der Bewegung inne. Hastig versicherte Humboldt, er habe nur gesagt, man dürfe die Leistungen eines Wissenschaftlers nicht überschätzen, der Forscher sei kein Schöpfer, er erfinde nichts, er gewinne kein Land, er ziehe keine Frucht, weder säe noch ernte er, und ihm folgten andere, die mehr, und wieder andere, die noch mehr wüßten, bis schließlich alles wieder versinke. Stirnrunzelnd legte der Zar das Band um seine Schultern, es wurde Vivat gerufen und Bravo, und Humboldt bemühte sich, nicht gebeugt zu stehen. Zuvor auf den Prunkstiegen waren ihm offene Knöpfe an seinem Frackhemd aufgefallen, und errötend hatte er Rose bitten müssen, sie zu schließen, seit neue-stem seien seine Finger so klamm. Nun verschwamm ihm der Goldsaal vor Augen, die Lüster strahlten, als käme ihr Licht von anderswo, alles klatschte, und ein dunkelhäutiger Dichter trug mit weicher Stimme ein Poem vor.

Humboldt hätte Gauß gern von dem Brief erzählt, der ihn nach über einem Jahr der Reise zerknittert und flek-kig in Petersburg erwartet hatte. Schwer und langsam, schrieb Bonpland darin, vergingen seine Tage, die klein gewordene Erde enthalte nur mehr ihn, sein Haus und das Feld darum, alles draußen gehöre der undurchsich-tigen Welt des Präsidenten an, er sei gefaßt, hoffe nichts mehr, erwarte das Schlimmste und habe sozusagen die Ruhe gefunden; Du fehlst mir, mein Alter. Ich habe nie jemand getroffen, der Pflanzen mochte wie Du. Humboldt zuckte zusammen, Rose hatte ihn am Oberarm be-rührt. Alle um die große Tafel sahen ihn an. Er stand auf, doch während seiner etwas konfusen Tischrede dachte er an Gauß. Dieser Bonpland, hätte ihm der Professor wohl geantwortet, hatte allerdings Pech, aber können wir beide uns beklagen? Kein Kannibale hat Sie gegessen, kein Ignorant mich totgeschlagen. Hat es nicht etwas Beschä-

mendes, wie leicht uns alles fiel? Und was jetzt geschieht, ist nur, was einmal geschehen mußte: Unser Erfinder hat genug von uns. Gauß legte die Pfeife weg, zog die Samtmütze über den Hinterkopf, steckte das russische Wörterbuch und den kleinen Puschkin-Band ein und machte sich auf, vor dem Abendessen spazierenzugehen.

Sein Rücken schmerzte, sein Bauch ebenso, und in seinen Ohren rauschte es. Dennoch war seine Gesundheit gar nicht übel. Andere waren gestorben, er war noch hier.