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Immer noch konnte er denken, zwar nichts allzu Kompliziertes mehr, aber für das Nötigste reichte es. Über ihm schwankten die Baumwipfel, in der Ferne ragte die Kuppel seiner Sternwarte auf, später in der Nacht würde er ans Fernrohr gehen und, mehr aus Gewohnheit, als um noch etwas zu finden, das Band der Milchstraße in die Richtung der fernen Spiralnebel verfolgen. Er dachte an Humboldt. Gern hätte er ihm eine gute Rückkehr gewünscht, aber am Ende kam man nie gut zurück, sondern jedesmal ein wenig schwächer, und zuletzt gar nicht mehr. Vielleicht gab es ihn ja doch, den Hchtlöschenden Äther. Aber natürlich gebe es ihn, dachte Humboldt in seiner Kutsche, er habe ihn ja dabei, in einem der Fuhrwerke, nur erinnere er sich nicht mehr, wo, es seien Hunderte Kisten, und er habe den Überblick verloren.

Plötzlich wandte er sich Ehrenberg zu. Tatsachen! Aha, sagte Ehrenberg. Tatsachen, wiederholte Humboldt, die verblieben noch, er werde sie alle aufschreiben, ein un-geheures Werk voller Tatsachen, jede Tatsache der Welt, enthalten in einem einzigen Buch, alle Tatsachen und nur sie, der ganze Kosmos noch einmal, allerdings ent-kleidet von Irrtum, Phantasie, Traum und Nebel; Fakten und Zahlen, sagte er mit unsicherer Stimme, die könnten einen vielleicht retten. Bedenke er zum Beispiel, daß sie dreiundzwanzig Wochen unterwegs gewesen seien, vierzehntausendfünfhundert Werst zurückgelegt und sechshundertachtundfünfzig Poststationen aufgesucht hätten und, er zögerte, zwölftausendzweihundertvier-undzwanzig Pferde benützt, so ordne sich die Wirrnis zur Begreiflichkeit, und man fasse Mut. Aber während die ersten Vororte Berlins vorbeiflogen und Humboldt sich vorstellte, wie Gauß eben jetzt durch sein Teleskop auf Himmelskörper sah, deren Bahnen er in einfache Formeln fassen konnte, hätte er auf einmal nicht mehr sagen können, wer von ihnen weit herumgekommen war und wer immer zu Hause geblieben.

Der

Baum

Als Eugen die Küste verschwinden sah, zündete er sich die erste Pfeife seines Lebens an. Gut schmeckte sie nicht, aber wahrscheinlich konnte man sich daran gewöhnen. Er trug jetzt einen Bart und kam sich zum erstenmal nicht wie ein Kind vor.

Der Morgen nach seiner Verhaftung schien lange zurückzuliegen. Der schnurrbärtige Gendarmeriekommandant war in seine Zelle gestürmt und hatte ihm zwei Ohrfeigen von solcher Wucht verpaßt, daß sie ihm den Kiefer ausgerenkt hatten. Wenig später hatte das Verhör begonnen: Ein merkwürdig höflicher Mann im Gehrock fragte ihn traurig, warum er das getan habe. Mit dem Widerstand bei der Inhaftierung habe er sich in Teufels Küche gebracht, sei denn das nötig gewesen?

Aber er habe sich nicht gewehrt, rief Eugen.

Der Geheimpolizist fragte, ob er Preußens Polizei der Lüge bezichtigen wolle.

Eugen bat ihn, Kontakt mit seinem Vater aufzuneh-men.

Seufzend fragte der Geheimpolizist, ob er wirklich glaube, das habe man nicht längst getan. Er beugte sich vor, faßte Eugen vorsichtig an beiden Ohren und schlug seinen Kopf mit aller Kraft auf die Tischplatte.

Als Eugen zu sich kam, lag er in einem sauber bezoge-nen Bett am Rand eines Krankenhausschlafsaals mit ver-gitterten Fenstern. Dies sei keiner der schlimmen Orte, sagte eine ältliche Schwester, hierher würden nur Adelige verlegt oder Leute, für die sich jemand verwendet habe, er solle froh sein.

Gegen Abend tauchte von neuem der höfliche Geheimpolizist auf. Alles sei geregelt, Eugen werde das Land verlassen. Man rege eine Reise nach Übersee an.

Er wisse nicht recht, sagte Eugen, das sei schon sehr weit.

Eigentlich sei das kein Vorschlag, antwortete der Geheimpolizist, die Idee stehe nicht zur Diskussion, und wüßte Eugen, welchem Schicksal er entgehe, er würde weinen vor Glück.

Am Abend kam sein Vater. Er setzte sich auf den Bettrand und fragte, wie er das seiner Mutter habe antun können.

Er habe das alles nicht vorgehabt, sagte Eugen weinend, er habe von nichts gewußt, er wolle nicht weg.

Geschehen sei geschehen, sagte sein Vater, klopfte ihm geistesabwesend auf die Schulter und schob etwas Geld unter sein Kopfkissen. Der Baron habe alles geregelt, er sei ein feiner Mann, wenn auch etwas verrückt.

Eugen fragte, wovon er leben solle.

Sein Vater zuckte die Schultern. Ob er schon einmal über die Berechnung von Feldern nachgedacht habe?

Feldern, wieso?

Kugelfunktionen, sagte sein Vater nachdenklich, so müsse es zu machen sein. Er fuhr zusammen und sah Eugen an, als erwache er aus einem Traum. Wie auch immer, er werde es schon schaffen! Dann zog er Eugen so fest an sich, daß seine Schulter gegen dessen Kiefer prallte; für ein paar Sekunden war Eugen betäubt vor Schmerz. Als er wieder klar denken konnte, war sein Vater gegangen. Erst jetzt begriff er, daß er ihn nie mehr sehen würde.

Drei Tage später erreichte er den Hafen. Beim Warten auf die Fähre nach England kam er mit drei Handels-reisenden ins Gespräch, gutmütigen Leuten, nicht sehr intelligent, die für neugegründete Bankhäuser arbeiteten und ihn zu einem Kartenspiel aufforderten. Er gewann.

Zunächst wenig, dann immer mehr, schließlich so viel, daß sie ihn für einen Betrüger hielten und er schnell gehen mußte. Dabei hatte er nichts anderes getan, als sich die Karten nach Giordano Brunos Methode zu merken, die sein Vater ihm vor Jahren beigebracht hatte: Man mußte jede Karte im Kopf in eine Menschen- oder Tier-figur verwandeln, je alberner desto besser, so daß sie sich zu einer Geschichte zusammenfügten. Wenn man es ge-

übt hatte, konnte man ein Spiel mit zweiunddreißig Blatt im Gedächtnis behalten. Damals war ihm das nie gelungen, und sein Vater hatte schimpfend aufgegeben. Jetzt aber ging es ohne Schwierigkeiten.

In einer anderen Gastwirtschaft trank er zuviel. Die Luft um ihn schien zu flimmern, und er spürte sanfte Müdigkeit in allen Gliedern. Der Wunsch nach Schlaf war so stark, daß er fast die schöne junge Frau übersehen hätte, die plötzlich neben ihm saß. So jung, das erkannte er dann aus der Nähe, war sie zwar gar nicht, und auch nicht ganz so hübsch, doch als er log und sagte, er habe kein Geld, fragte sie ihn beleidigt, ob er sie für so eine halte, und schon um ihr zu zeigen, daß er es nicht tat, nahm er sie auf sein Herbergszimmer mit. Auf dem Weg dorthin dachte er darüber nach, ob es sich gehörte, ihr zu sagen, daß sie seine erste Frau war und er kaum wußte, was er zu tun hatte. Doch dann war es sehr einfach, und als er im Halbdunkel ihre Hände auf seinen Wangen spürte, war er so glücklich und müde, daß er fast eingeschlafen wäre, hätte sie es nicht verstanden, ihn wachzuhalten, und es war gar nicht mehr wichtig, wie jung sie war oder wie sie aussah, und als ihm am nächsten Morgen klar wurde, daß sie seinen ganzen Gewinn mitgenommen hatte, brachte er es nicht fertig, sich zu ärgern. Wie leicht alles wurde, wenn man aufbrach.

Dann war er nach England gekommen: fremde Menschen, eine Sprache aus seltsam klingenden Lauten, fremde Ortsschilder und merkwürdiges Essen. Angeblich lebten Millionen in London, aber er konnte es sich nicht vorstellen; eine Million Menschen, das ergab keinen Sinn.

In seinem Gasthof erreichte ihn ein Brief Humboldts, der ihm empfahl, eines der neuartigen Dampfschiffe zu nehmen. Er schloß Ratschläge über den Umgang mit wilden Menschen an: Man müsse freundlich und interessiert wirken und dürfe weder seine Überlegenheit leugnen, noch es unterlassen, Belehrungen zu äußern, das Wohl-gefallen an der Unwissenheit anderer sei eine Form der Herablassung. Eugen mußte lachen. Als ob er sich unter Wilden ansiedeln würde! Von seinem Vater kein Wort.

Nachts konnte er vor Heimweh und Einsamkeit nicht schlafen. Er nahm das erste Dampfschiff, auf dem eine Passage frei war.

Es gab nur wenige Reisende an Bord, Dampfer fuhren erst seit kutzem über den Ozean, und den meisten war es noch zu neu. Der Himmel war niedrig und bewölkt, Eugens Pfeife ging aus, er wollte sie wieder anzünden, aber der Wind war zu stark. Der Kapitän, der erfahren hatte, daß Eugen etwas von Mathematik verstand, lud ihn in die Steuerkabine ein.