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Du verkennst mich, antwortete Humboldt. Ich habe herausgefunden, daß der Mensch bereit ist, Unbill zu erfahren, aber viel Erkenntnis entgeht ihm, weil er den Schmerz furchtet. Wer sich jedoch zum Schmerz entschließt, begreift Dinge, die er nicht ... Er legte die Feder weg, rieb sich die Schulter und zerknüllte das Blatt.

Unsere Brüderlichkeit, begann er von neuem, wieso er-scheint sie mir als das eigentliche Rätsel? Daß wir allein sind und verdoppelt, daß Du bist, was ich nicht werden soll, und ich bin, was Du nicht sein kannst, daß wir zu zweit durchs Dasein müssen, einander, ob wir wollen oder nicht, für immer näher als jedem anderen. Und wieso vermute ich, daß unsere Größe folgenlos bleiben und, was wir auch vollbringen, dahinschwinden wird, als wäre es nichts, bis unsere gegeneinander gewachsenen Namen, wieder zu einem verschmolzen, verblassen werden? Er stockte, dann zerriß er das Blatt in winzige Fetzen.

Um die Pflanzen in der Freiberger Mine zu untersuchen, entwickelte er die Grubenlampe: eine Flamme, ge-nährt von einem Behälter Gas, die auch an Orten ohne Luft noch Licht gab. Fast hätte es ihn umgebracht. Er stieg in eine noch nie erforschte Kammer ab, stellte die Lampe hin und wurde nach wenigen Minuten ohnmächtig. Sterbend sah er tropische Schlingpflanzen, welche unter seinem Blick zu Frauenkörpern wurden, aufschreiend kam er zu sich. Ein Spanier namens Andres del Rio, ein ehemaliger Mitschüler an der Freiberger Akademie, hatte ihn gefunden und hinaufgeschafft. Vor Scham brachte Humboldt es kaum fertig, sich zu bedanken.

In einem Monat harter Arbeit entwickelte er eine Re-spirationsmaschine: Von einem Luftsack führten zwei Schläuche zu einer Atemmaske. Er schnallte das Gerät um und stieg hinab. Mit steinernem Gesicht ertrug er die beginnenden Halluzinationen. Dann erst, seine Knie wurden bereits weich und das Schwindelgeftihl verviel-fachte die Kerzenflamme zu einer Feuersbrunst, öffnete er das Ventil und sah grimmig zu, wie die Frauen wieder zu Pflanzen und die Pflanzen zu nichts wurden. Er blieb noch Stunden in der kühlen Dunkelheit. Als er ans Tageslicht kam, erwartete ihn Kunths Schreiben, das ihn ans Sterbebett seiner Mutter rief.

Wie es sich gehörte, ritt er auf dem schnellsten Pferd, das zu bekommen war. Regen schlug ihm ins Gesicht, sein Mantel flatterte, zweimal rutschte er vom Sattel und fiel in den Dteck. Unrasiert und schmutzig traf er ein, und weil er wußte, was sich in solchen Fallen schickte, tat er, als wäre er außer Atem. Kunth nickte beifällig, gemeinsam saßen sie an ihrem Bett und sahen zu, wie der Schmerz ihr Gesicht in etwas Fremdes verwandelte. Die Auszehrung hatte sie innerlich verbrannt, ihre Wangen waren eingefallen, ihr Kinn war lang und ihre Nase plötzlich krumm, an den Aderlässen war sie beinahe verblutet.

Während Humboldt ihre Hand hielt, ging der Nachmittag in den Abend über, und ein Bote brachte einen Brief seines Bruders, der sich wegen dringender Geschäfte in Weimar entschuldigte. Als die Nacht anbrach, bäumte sich seine Mutter auf und begann spitze Schreie auszu-stoßen. Das Schlafmittel wirkte nicht, auch ein weiterer Aderlaß brachte keine Beruhigung, und Humboldt kam es unbegreiflich vor, daß sie sich so ungesittet benehmen konnte. Gegen Mitternacht wurden ihre Schreie so hemmungslos laut, schienen so tief aus ihtem sich aufbäumenden Körper emporzudringen, als durchlebte sie einen Höhepunkt der Lust. Er wartete mit geschlossenen Augen. Erst nach zwei Stunden verstummte sie. Als es hell wurde, murmelte sie Unverständliches, als die Sonne in den Vormittagshimmel stieg, sah sie ihren Sohn an und sagte, er solle sich gerade halten, so zu lümmeln sei doch keine Art. Dann wandte sie den Kopf ab, ihre Augen schienen zu Glas zu werden, und er sah die erste Tote seines Lebens.

Kunth legte ihm die Hand auf die Schulter. Niemand könne ermessen, was ihm diese Familie gewesen sei.

Doch, sagte Humboldt, als soufflierte ihm jemand, er könne es, und er werde es nie vergessen.

Kunth seufzte gerührt. Er wußte jetzt, er würde auch weiterhin sein Gehalt bekommen.

Am Nachmittag sahen die Bedienten Humboldt vor dem Schloß auf und ab gehen, über die Hügelkuppen, um den Teich, den Mund offen, das Gesicht zum Himmel gekehrt wie ein Idiot. So hatten sie ihn noch nie erlebt. Er müsse, sagten sie zueinander, arg erschüttert sein.

Und wirklich: Er war noch nie so glücklich gewesen.

Eine Woche später kündigte er seine Anstellung. Der Minister begriff nicht. So ein hohes Amt in solcher Jugend, dem Aufstieg seien doch keine Grenzen gesetzt!

Warum also?

Weil das alles zu wenig sei, antwortete Humboldt. Er stand kleingewachsen, aber aufrecht, mit leuchtenden Augen und leicht hängenden Schultern vor dem Schreibtisch seines Vorgesetzten. Und weil er jetzt endlich aufbrechen könne.

Zunächst ging es nach Weimar, wo sein Bruder ihn Wieland, Herder und Goethe vorstellte. Dieser begrüßte ihn als Bundesgenossen. Jeder Schüler des großen Werner finde in ihm einen Freund.

Er werde in die Neue Welt reisen, sagte Humboldt. Das habe er noch keinem verraten. Niemand werde ihn abhalten, und er rechne nicht damit, lebend zurückzu-kehren.

Goethe nahm ihn beiseite und führte ihn durch eine Flucht in unterschiedlichen Farben gestrichener Zimmer zu einem hohen Fenster. Ein großes Unterfangen, sagte er. Wichtig sei vor allem, die Vulkane zu erforschen, um die neptunistische Theorie zu stützen. Unter der Erde brenne kein Feuer. Das Innerste der Natur sei nicht ko-chende Lava. Nur verdorbene Geistet könnten auf solch abstoßende Gedanken verfallen.

Humboldt versprach, sich die Vulkane anzusehen.

Goethe verschränkte die Arme auf dem Rücken. Und nie solle er vergessen, von wem er komme.

Humboldt verstand nicht.

Er solle bedenken, wer ihn geschickt habe. Goethe machte eine Handbewegung in Richtung der bunten Zimmer, der Gipsabgüsse römischer Statuen, der Männer, die sich im Salon mit gedämpften Stimmen unterhielten. Humboldts älterer Bruder sprach über die Vorteile des Blankverses, Wieland nickte aufmerksam, auf dem Sofa saß Schiller und gähnte verstohlen. Von uns kommen Sie, sagte Goethe, von hier. Unser Botschafter bleiben Sie auch überm Meer.

Humboldt reiste nach Salzburg weiter, wo er sich das teuerste Arsenal von Meßgeräten zulegte, das je ein Mensch besessen hatte. Zwei Barometer für den Luftdruck, ein Hypsometer zur Messung des Wassersiede-punktes, ein Theodolit für die Landvermessung, ein Spiegelsextant mit künstlichem Horizont, ein faltbarer Taschensextant, ein Inklinatorium, um die Stärke des Erdmagnetismus zu bestimmen, ein Haarhygrometer für die Luftfeuchtigkeit, ein Eudiometer zur Messung des Sauerstoffgehaltes der Luft, eine Leydener Flasche zur Speicherung elektrischer Ladungen und ein Cyanometer zur Messung der Himmelsbläue. Dazu zwei jener unbezahlbar teuren Uhren, welche man seit kurzem in Paris anfertigte. Sie brauchten kein Pendel mehr, sondern schlugen die Sekunden unsichtbar, mit regelmäßig schwingenden Federn, in ihrem Inneren. Wenn man sie gut behandelte, wichen sie nicht von der Pariser Zeit ab und ermöglichten, indem man die Sonnenhöhe über dem Horizont ermittelte und dann Tabellen befragte, die Bestimmung des Längengrades.

Er blieb ein Jahr und übte. Et vermaß jeden Salzburger Hügel, er stellte täglich den Luftdruck fest, er kartogra-phierte das magnetische Feld, prüfte Luft, Wasser, Erde und Himmelsfarbe. Er übte das Zerlegen und Zusam-menbauen jedes Instruments, bis er es blind beherrschte, auf einem Bein stehend, bei Regen oder inmitten einer fliegenumschwärmten Kuhherde. Die Einheimischen hielten ihn für verrückt. Aber auch daran, er wußte es, mußte er sich gewöhnen. Einmal band er sich eine Woche lang den Arm auf den Rücken, um sich mit Unbill und Schmerz vertraut zu machen. Weil ihn die Uniform störte, ließ er sich eine zweite anmessen, die er auch nachts im Bett trug. Der ganze Kniff sei, sich nie etwas durchgehen zu lassen, sagte er zu Frau Schobel, seiner Zimmervermieterin, und bat um noch ein Glas der grünlichen Molke, vor der es ihn so ekelte.