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Dann erst fuhr er nach Paris, wo sein Bruder jetzt als Privatmann lebte, um seine verwirrend klugen Kinder nach einem strengen, selbstentwickelten System zu erziehen. Seine Schwägerin konnte ihn nicht leiden. Er sei ihr unheimlich, sagte sie, seine Geschäftigkeit scheine ihr eine Form des Wahnsinns, überhaupt komme er ihr vor wie ein zur Karikatur verzerrtes Abbild ihres Gatten.

Ganz könne er ihr da nicht unrecht geben, antwortete dieser, und es sei ihm nie leichtgefallen, so vollständig verantwortlich zu sein für alle Torheiten des Bruders, sein Hüter gleichsam.

An der Akademie hielt Humboldt Vorlesungen über die Leitfähigkeit menschlicher Nerven. Er stand dabei, als im Nieselregen auf ausgetretenem Rasen vor der Stadt der letzte Abschnitt des Längengrades gemessen wurde, der Paris mit dem Pol verband. Als es vollbracht war, nahmen alle die Hüte ab und schüttelten einander die Hände: Ein Zehnmillionstel der Strecke würde, in Metall gefaßt, zur Einheit aller künftigen Längenmessungen werden. Man wollte es Meter nennen. Es erfüllte Humboldt stets mit Hochgefühl, wenn etwas gemessen wurde; diesmal war er trunken vor Enthusiasmus. Die Erregung ließ ihn mehrere Nächte nicht schlafen.

Er erkundigte sich nach Expeditionen. Ein gewisser Lord Bristol wollte nach Ägypten, doch kurz darauf kam er als Spion ins Gefängnis. Humboldt erfuhr, daß das Direktorium eine Forschertruppe unter Leitung des großen Bougainville in die Südsee schicken wollte, aber Bougainville war alt wie ein Felsen, völlig taub, saß in einem Thronsessel, murmelte vor sich hin und machte Dirigierbewegungen, von denen keiner wußte, wem sie galten. Als Humboldt sich vor ihm verbeugte, segnete er ihn mit bischöflicher Geste und winkte ihn weg. Das Direktorium ersetzte ihn durch den Offizier Baudin. Der empfing Humboldt freundlich und versprach alles. Wenig später war er mit dem gesamten Geld, das der Staat ihm übergeben hatte, abgereist.

Eines Abends saß auf der Treppe von Humboldts Wohnhaus ein junger Mann, trank Schnaps aus einer Sil-berflasche und schimpfte fürchterlich, als Humboldt ihm aus Versehen auf die Hand trat. Humboldt entschuldigte sich, die beiden kamen ins Gespräch. Der Mann hieß Aimé Bonpland und hatte ebenfalls mit Baudin reisen wollen. Er war fünfundzwanzig, hochgewachsen, etwas zerlumpt, hatte nur wenige Pockennarben und bloß eine Zahnlücke, ganz vorne. Die beiden sahen einander an, und später hätte keiner von ihnen mehr sagen können, ob wirklich eine Vorahnung zwischen ihnen hin- und hergegangen war, daß jeder für den anderen wichtiger sein sollte als irgendein Mensch sonst, oder ob es ihnen bloß beim Zurückdenken so schien.

Er komme aus La Rochelle, erzählte Bonpland, habe den niedrigen Himmel der Provinz erduldet wie das Dach eines Gefängnisses. Täglich habe er fortgewollt, sei dann Militärarzt geworden, aber die Universität habe seinen Titel nicht anerkannt. Während er den Abschluß nach-geholt habe, habe er Botanik studiert, er liebe Tropenpflanzen, und jetzt wisse er nicht, was anfangen. Zurück nach La Rochelle, da lieber der Tod!

Humboldt erkundigte sich, ob er ihn umarmen dür-fe.

Nein, sagte Bonpland erschrocken.

Sie hätten, sagte Humboldt, Ähnliches hinter und dasselbe vor sich, und täten sie sich zusammen, wer solle sie aufhalten? Er streckte die Hand aus.

Bonpland verstand nicht.

Sie könnten gemeinsam gehen, erklärte Humboldt, er brauche einen Reisegefährten, er habe Geld.

Bonpland sah ihn aufmerksam an und schraubte die Flasche zu.

Jung seien sie beide, sagte Humboldt, entschlossen auch, gemeinsam würden sie groß sein. Oder habe Bonpland nicht dieses Gefühl?

Bonpland hatte es nicht, aber Humboldts Begeisterung war ansteckend. Deshalb, und auch, weil es unhöflich war, jemanden mit ausgestreckter Hand stehenzulassen, schlug er ein und unterdrückte einen Schmerzenslaut: Humboldts Händedruck war fester, als er es von dem kleinen Mann erwartet hatte.

Und was jetzt?

Wohin sonst, antwortete Humboldt, als nach Spanien!

Wenig später vetabschiedeten sich die Brüder mit den Gesten zweier Monarchen. Humboldt wurde ganz verlegen, als die Haarspitzen der Schwägerin beim Abschieds-kuß seine Wange streiften. Er fragte, ob man sich wohl wiedersehen werde.

Gewiß, sagte der ältere Bruder. In dieser oder der anderen Welt. Im Fleische oder im Licht.

Humboldt und Bonpland bestiegen die Pferde und ritten los. Mit Verblüffung sah Bonpland, daß sein Gefährte es fertigbrachte, sich kein einziges Mal umzudrehen, bis Bruder und Schwägerin außer Sichtweite waren.

Auf dem Weg nach Spanien vermaß Humboldt jeden Hügel. Er erklomm jeden Berg. Er klopfte Steinproben von jeder Felswand. Mit seiner Sauerstoffmaske erkun-dete er jede Höhle bis in die hinterste Kammer. Einheimische, die beobachteten, wie er die Sonne durch das Okular des Sextanten fixierte, hielten sie für heidnische Anbeter des Gestirns und bewarfen sie mit Steinen, so daß sie auf die Pferde springen und im Galopp fliehen mußten. Die ersten zwei Male entkamen sie unverletzt, vom dritten trug Bonpland eine schlimme Platzwunde davon.

Er begann sich zu wundern. Ob das denn nötig sei, fragte er, man sei schließlich auf der Durchreise, man wolle doch nur nach Madrid und wäre viel schneller dort, wenn man einfach nur hinritte, Herrgott noch mal.

Humboldt überlegte. Nein, sagte er dann, er bedauere.

Ein Hügel, von dem man nicht wisse, wie hoch er sei, beleidige die Vernunft und mache ihn unruhig. Ohne stetig die eigene Position zu bestimmen, könne ein Mensch sich nicht fortbewegen. Ein Rätsel, wie klein auch immer, lasse man nicht am Wegesrand.

Von jetzt an reisten sie nachts, damit er unbehelligt Messungen vornehmen konnte. Man müsse die Plan-koordinaten genauer bestimmen, als es bisher getan worden sei. Die Karten von Spanien seien nicht exakt. Man wolle ja wissen, wohin man reite.

Aber das wisse man doch, rief Bonpland. Hier sei die Landstraße, und sie führe nach Madrid. Mehr brauche man nicht!

Um die Straße gehe es nicht, antwortete Humboldt. Es gehe ums Prinzip.

In der Nähe der Hauptstadt nahm das Tageslicht eine silbrige Tönung an. Bald gab es kaum noch Bäume. Die Mitte Spaniens sei kein Becken, erklärte Humboldt. Die Geographen seien wieder einmal im Unrecht. Vielmehr sei sie ein Hochplateau und habe einst als Insel aus einem vorzeitlichen Meer geragt.

Selbstverständlich, sagte Bonpland und nahm einen Schluck aus seiner Flasche. Als Insel.

In Madrid regierte der Minister Manuel de Urquijo.

Jeder wußte, daß er mit der Königin schlief. Der König war machtlos, seine Kinder verachteten ihn, das Land fand ihn komisch. An Urquijo führte kein Weg vorbei, denn die Kolonien waren für Ausländer gesperrt, und eine Ausnahme hatte es noch nie gegeben. Humboldt suchte den preußischen, den belgischen, den niederländischen und den französischen Botschafter auf. Nachts lernte er Spanisch.

Bonpland fragte, ob er denn niemals schlafe.

Wenn er es vermeiden könne, antwortete Humboldt, nicht.

Nach einem Monat hatte er es geschafft, eine Audienz bei Urquijo im Palast von Aranjuez zu bekommen. Der Minister war fettleibig, nervös und sorgenvoll. Aufgrund eines Mißverständnisses und vielleicht, weil er einmal von Paracelsus gehört hatte, hielt er Humboldt für einen deutschen Arzt und fragte nach einem Potenzmittel.

Was bitte?

Der Minister führte ihn in einen dunklen Winkel des steinernen Saales, legte ihm die Hand auf die Schulter und dämpfte seine Stimme. Es gehe nicht ums Vergnü-

gen. Seine Macht über das Land rühre von seiner Macht über die Königin her. Diese sei keine junge Frau mehr, er selbst kein junger Mann.

Humboldt sah blinzelnd aus dem Fenster. Im weißen Mittagslicht breitete sich in unwirklicher Symmetrie die Parkanlage aus. Über einem maurischen Brunnen stand ein träge funkelnder Wasserstrahl.