Ob er das akzeptieren könne?
Bonpland murmelte etwas Unverständliches und schloß seine Hose.
Einige Tage später überfuhr das Schiff den Wendekreis.
Humboldt legte den Fisch, dessen Schwimmblase er gerade im Licht einer abgedämpften Öllampe sezierte, zur Seite und sah zu den klar gestochenen Punkten des südlichen Kreuzes auf. Die Sternbilder der neuen Hemisphäre, erst zum Teil in den Atlanten erfaßt. Die andere Hälfte von Erde und Himmel.
Unversehens gerieten sie in einen Molluskenschwarm.
Die Gegenströmung der roten Quallen war so heftig, daß das Schiff sich langsam rückwärts bewegte. Bonpland fischte zwei der Tiere heraus. Er fühle sich seltsam, sagte er. Er wisse nicht, wieso, aber etwas sei hier nicht in Ordnung.
Am nächsten Morgen brach das Fieber aus. Unter Deck stank es erbärmlich, nachts wimmerten die Kranken, selbst an freier Luft roch es nach Erbrochenem.
Der Schiffsarzt hatte keine Chinarinde mitgenommen: Neumodisches Zeug, Aderlässe seien erprobt und viel wirksamer! Ein junger Matrose aus Barcelona verblutete bei der dritten Behandlung. Eines anderen Delirium war so stark, daß er davonzufliegen versuchte, erst nach einigen Flügelschlägen abstürzte und fast ertrunken wäre, hätte man nicht sofort ein Boot zu Wasser gelassen und ihn zu fassen bekommen. Während Bonpland krank in seiner Koje lag, kochendheißen Rum trank und für keine Arbeit zu gebrauchen war, zerschnitt Humboldt die beiden Mollusken unter dem Mikroskop, bestimmte viertelstündlich Luftdruck, Himmelsfarbe und Was-sertemperatur, ließ alle dreißig Minuten ein Senkblei hinab und trug die Ergebnisse in ein dickes Logbuch ein.
Gerade jetzt, erklärte er dem röchelnden Bonpland, dürfe man sich keine Schwäche erlauben. Die Arbeit helfe nämlich. Zahlen bannten Unordnung. Selbst die des Fiebers.
Bonpland fragte ihn, ob er selbst nicht wenigstens ein kleines bißchen seekrank sei.
Er wisse es nicht. Er habe sich entschlossen, es zu ignorieren, also bemerke er es nicht. Natürlich müsse er sich manchmal übergeben. Doch eigentlich falle ihm das kaum mehr auf.
Am Abend mußte der nächste Tote unter Wasser.
Dies beunruhige ihn, sagte Humboldt zum Kapitän.
Das Fieber dürfe seine Expedition nicht gefährden. Er habe entschieden, nicht bis Veracruz mitzufahren, sondern in vier Tagen von Bord zu gehen.
Der Kapitän fragte, ob er ein guter Schwimmer sei.
Das sei nicht nötig, sagte Humboldt, gegen sechs Uhr früh in drei Tagen werde man Inseln sehen, einen Tag später das Festland erreichen. Er habe es ausgerechnet.
Der Kapitän erkundigte sich, ob es gerade nichts zu zerschneiden gebe.
Stirnrunzelnd fragte Humboldt, ob man sich an ihm belustigen wolle.
Keineswegs, sondern bloß an die Kluft zwischen Theorie und Praxis erinnern. Berechnungen in Ehren, aber dies sei keine Schulaufgabe, dies sei der Ozean. Niemand könne Strömungen und Winde voraussagen. So genau sei das Auftauchen von Land einfach nicht vorherzusehen.
Am frühen Morgen des dritten Tages bildeten sich langsam die Umrisse einer Küste im Dunst.
Trinidad, sagte Humboldt ruhig.
Wohl kaum. Der Kapitän wies auf die Seekarte.
Die sei nicht exakt, sagte Humboldt. Die Entfernung zwischen altem und neuem Kontinent sei offenbar falsch eingeschätzt worden. Es habe noch niemand die Strö-
mungen gewissenhaft gemessen. Wenn es recht sei, werde er morgen früh nach Terra Firma übersetzen.
Vor der Mündung eines großen Flusses gingen sie von Bord. Seine Kraft war so gewaltig, daß das Meer aus schäu-mendem Süßwasser zu bestehen schien. Während drei Boote die Kisten mit ihrer Ausrüstung an Land brachten, verabschiedete sich Humboldt in tadellos preußischer Uniform salutierend vom Kapitän. Noch im Boot, das sie in Richtung des träge vor ihnen schaukelnden Festlands trug, begann er seinem Bruder von der hellen Luft, dem warmen Wind, den Kokosbäumen und Flamingos zu schreiben. Ich weiß nicht, wann dies eintreffen wird, doch sieh zu, daß Du es in die Zeitung bekommst. Die Welt soll von mir erfahren. Ich müßte mich sehr irren, wenn ich ihr gleichgültig bin.
Der
Lehrer
Wer den Professor nach frühen Erinnerungen fragte, bekam zur Antwort, daß es so etwas nicht gebe. Erinnerungen seien, anders als Kupferstiche oder Postsendungen, undatiert. Man finde Dinge in seinem Gedächtnis vor, welche man manchmal durch Überlegung in die richtige Reihenfolge bringen könne.
Leblos und zweitklassig fühlte sich etwa die Erinnerung an den Nachmittag an, als er seinen Vater beim Ab-zählen des Lohnes korrigiert hatte. Vielleicht hatte er sie zu oft erzählen hören; sie schien ihm zurechtgebogen und unwirklich. Jede andere hatte mit seiner Mutter zu tun.
Er war gefallen, sie tröstete ihn; er weinte, sie wischte die Tränen weg; er konnte nicht schlafen, sie sang ihm vor; ein Junge aus der Nachbarschaft wollte ihn prügeln, aber sie sah es, rannte ihm nach, bekam ihn zu fassen, klemmte ihn zwischen die Knie und schlug ihm ins Gesicht, bis er blutig und taub davontappte. Er liebte sie unsagbar. Er würde sterben, stieße ihr etwas zu. Das war keine Re-densart. Er wußte, daß er es nicht überleben würde. So war es gewesen, als er drei Jahre alt war, und dreißig Jahre später war es nicht anders.
Sein Vater war Gärtner, hatte meist dreckige Hände, verdiente wenig, und wann immer er sprach, beklagte er sich oder gab Befehle. Ein Deutscher, sagte er immer wieder, während er müde die abendliche Kartoffelsuppe aß, sei jemand, der nie krumm sitze. Einmal fragte Gauß: Nur das? Reiche das denn schon, um ein Deutscher zu sein? Sein Vater überlegte so lange, daß man es kaum mehr glauben konnte. Dann nickte er.
Seine Mutter war mollig und melancholisch, und au-
ßer Kochen, Waschen, Träumen und Weinen sah er sie nie etwas tun. Schreiben oder lesen konnte sie nicht.
Schon früh war ihm aufgefallen, daß sie alterte. Ihre Haut verlor an Spannung, ihr Körper seine Form, ihre Augen hatten immer weniger Glanz, und jedes Jahr waren auf ihrem Gesicht neue Falten. Er wußte, daß es sich mit allen Menschen so verhielt, aber in ihrem Fall war es nicht zu ertragen. Sie verging vor seinen Augen, und er konnte nichts dagegen machen.
Die meisten späteren Erinnerungen kreisten um die Trägheit. Lange hatte er gemeint, daß die Leute Theater spielten oder einem Ritual anhingen, das sie verpflichte-te, immer erst nach einer kurzen Pause zu sprechen oder zu handeln. Manchmal konnte er sich anpassen, dann wieder war es nicht auszuhalten. Erst allmählich kam er dahinter, daß sie diese Pausen brauchten. Warum dachten sie so langsam, so schwer und mühevoll? Als würden Gedanken von einer Maschine hervorgebracht, die man zuvor anwerfen und in Gang kurbeln mußte, als wären sie nicht lebendig und bewegten sich von selbst. Ihm fiel auf, daß man sich ärgerte, wenn er die Pausen nicht einhielt.
Er tat sein Bestes, aber oft gelang es ihm nicht.
Auch die schwarzen Zeichen in den Büchern, welche zu den meisten Erwachsenen sprachen, nicht aber zu seiner Mutter und zu ihm, störten ihn. An einem Sonntag-nachmittag ließ er sich von seinem Vater, aber wie stehst du denn da, Junge, einige erklären: das mit dem großen Balken, das unten weit ausschwingende, den Halb- und den ganzen Kreis. Dann betrachtete er die Seite, bis sich die noch unbekannten ganz von allein ergänzten und da plötzlich Wörter standen. Er blätterte um, diesmal ging es schneller, ein paar Stunden später konnte er lesen, und noch am selben Abend war er mit dem Buch, das übrigens langweilig war und immerzu von Christi Tränen und der Liebesreue des Sünderherzens redete, fertig. Er brachte es seiner Mutter, um auch ihr die Zeichen zu er-klären, aber sie schüttelte traurig lachend den Kopf. In diesem Moment begriff er, daß niemand den Verstand benutzen wollte. Menschen wollten Ruhe. Sie wollten essen und schlafen, und sie wollten, daß man nett zu ihnen war. Denken wollten sie nicht.