John Norman
Die Verräter von Gor
1
Ein Blitz spaltete den Himmel und riß den strömenden Regen, die Wagen und die zahllosen Reisenden auf der Straße aus der Dunkelheit. Zu meiner Linken, etwa einen halben Pasang voraus, erhob sich das Felsplateau mit der Herberge Zum Krummen Tarn.
»Kein ganzer Pasang mehr, und wir sind da«, sagte ein Mann.
»Sie werden keine freien Schlafplätze mehr haben«, bemerkte ein anderer.
Der erste Sprecher schnaubte verächtlich. »Und selbst wenn es so wäre, könntest du ihn dir sowieso nicht leisten.«
»Wir schlagen das Lager auf der wind geschützten Seite auf«, meldete sich ein dritter Mann zu Wort. »Die Tiere können wir im Straßengraben tränken.«
»Da stehen bestimmt schon andere Wagen im Kreis zusammen.«
Reisegruppen stellen ihre Wagen meistens im Kreis auf; man fährt die Enden aneinander, richtet die Deichseln nach innen, schließt die Lücken des provisorischen Schutzwalls, so weit es möglich ist, kettet die Vorderachse an die Hinterachse des nächsten Wagens und schlägt das Lager in dem so entstandenen Kreis auf – mitsamt den Zugtieren und dem zumeist mitgeführten Vieh. Das Ganze nennt sich Wagenburg. Der Kreis bietet mehr Platz als jede andere geometrische Form, darum ist ein solches Lager so groß, wie es die Anzahl der Wagen erlaubt. Da jeder Punkt der Kreislinie normalerweise von der Mitte aus zu sehen und auch gleich weit davon entfernt ist, erleichtert dies die Verteidigung. Zum Beispiel kann man die Reserve schnell und angemessen zum Einsatz bringen. Bemerkenswerterweise sucht man diese Art von Lager bei den Wagenvölkern des Südens wie den Tuchuk vergeblich, was an der riesigen Anzahl ihrer Wagen liegt. Dort kann man fast schon von Wagenstädten sprechen. Die weniger großen Wagenvölker des Nordens wie die Alar benutzen allerdings ebenfalls die Wagenburg, vor allem dann, wenn die Stämme auf dem Marsch getrennt werden; allerdings ist ihr Kreis oftmals sehr groß und hat eine Breite von vier oder fünf Wagen.
Erneut zuckte ein Blitz vom Himmel, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donner.
Auf dem Plateau, auf dem die Herberge stand, zerrte der Wind an einem mit einer Kette befestigten regennassen großen Holzschild. Es besaß die Form eines mißgestalteten Tarns, dessen verkrümmter Hals an einen Geier erinnerte und dessen rechtes Bein mit den ausgestreckten, zupackenden Krallen viel länger als das linke war. Goreanische Herbergen werden oft von solchen Schildern angekündigt, da viele Goreaner – vor allem die Mitglieder unterer Kasten – nicht lesen können.
Dann wurde die Welt erneut in Dunkelheit getaucht, und alles beschränkte sich auf den strömenden Regen und das Quietschen der Wagen.
Ich hatte mir den Umhang über den Kopf gezogen. Der Wagen, neben dem ich ging, fuhr links von mir auf der linken Straßenseite, unterwegs in nördlicher Richtung auf der Vosk-Straße. Zumindest trug sie in jenen Breitengraden diesen Namen; im Süden nannte man sie Viktel Aria. Der Umhang fiel mir vom Kopf über die Schultern und reichte mir deswegen nur bis zur Taille. Ich hatte die Riemen der Schwertscheide gekürzt und so festgezurrt, daß der Schwertgriff unter dem Umhang über die linke Schulter ragte. Ich hielt mich an dem Wagen fest. So konnte ich es eher vermeiden, in der Dunkelheit und dem strömenden kalten Regen zu stolpern. Mit der rechten Hand hielt ich den Umhang um den Hals gerafft. Mein Bündel befand sich in dem Wagen.
In dem auf der rechten Seite nach Süden reisenden Verkehr erschollen plötzlich Flüche und das Protestgebrüll eines Tharlarions. Rufe ertönten. Holz knarrte, gefolgt vom Quietschen eines vorgeschobenen lederüberzogenen Bremsschuhs, der gegen den Eisenbeschlag eines Rades drückte. Jemand rief: »Spring!« Etwas Schweres rutschte, einen Augenblick später kippte ein Wagen krachend um und landete im Schlamm. Das Tharlarion, das vermutlich von den Füßen gerissen worden war, stemmte sich gegen sein Geschirr.
Ich holte mein Bündel vom Wagen, tastete umher, bis ich den nächsten in südlicher Richtung fahrenden Wagen berührte, umrundete ihn und begab mich zum Straßenrand. Ein Tharlarion trabte an mir vorbei. Ich streckte die Hand aus und berührte seine nassen Schuppen. Der nächste Blitz beleuchtete den Straßengraben. Der Wagen lag auf der Seite, die festgezurrte Ladung drückte gegen die Segeltuchplane, die sie bedeckte und an Ort und Stelle hielt. Das Tharlarion lag ebenfalls auf der Seite; in sein Geschirr verstrickt, trat es in die Luft, während es den langen Hals verrenkte.
Ein Mann drängte sich an mir vorbei, unter dem Umhang hielt er eine aufgeklappte, abgedunkelte Laterne. Regen strömte die Krempe seines Filzhutes hinunter. Zwei Männer folgten ihm. Sie rutschten die Seite des Straßengrabens hinunter.
»Die Achse ist gebrochen«, sagte der Hutträger zu dem Kutscher, der ebenfalls in Begleitung war. Ich blieb am Straßenrand stehen und tastete mit dem Fuß umher. Ein paar Steine fehlten. Vermutlich war das Rad dort von der Straße abgekommen. Bei dem dichten Verkehr und dem Sturm hatten sich offenbar die Begrenzungssteine gelockert. Der Wagen war dann wahrscheinlich in den Straßengraben gerutscht und hatte das Zugtier mitgezogen. Ich blieb für einen Augenblick dort stehen. Ich fand es merkwürdig, daß drei Männer, von denen einer eine Laterne trug, so schnell am Unfallort gewesen waren.
»Nehmt euch in acht!« rief der Kutscher den Fremden zu, die nun neben dem Wagen standen. »Ich befördere in diesem Wagen einen Heimstein.«
Die drei sahen sich an, dann wichen sie zurück. Sie hätten es nicht gewagt, sich mit jemandem anzulegen, der einen Heimstein transportierte, selbst wenn sie ihm drei zu zwei überlegen waren.
Es war so, wie ich gedacht hatte. Es waren Straßenräuber. Vermutlich hatte man die Bordsteine absichtlich gelockert.
»Ihr da«, rief ich in die Tiefe, »hebt eure Laterne!«
Sie sahen nach oben. Ich schlug den Umhang zurück, damit sie meine rote Tunika sehen konnten.
»Bleibt stehen!« befahl ich.
Sie gehorchten. Ich hätte einen von ihnen verfolgen können. Keiner von ihnen hatte Lust, dieses Risiko einzugehen.
Ich rutschte die Böschung hinunter.
Das Bündel warf ich zu Boden.
Ich nahm dem Kerl mit dem breitkrempigen Filzhut die Laterne ab und reichte sie dem Begleiter des Kutschers. Das Schwert zog ich nicht. Es war nicht nötig.
»Schirr das Tharlarion ab«, verlangte ich von dem Kutscher. »Sieh zu, daß es wieder auf die Füße kommt.«
Er begab sich zur Vorderseite des Wagens.
Ich packte den Anführer der Räuber. »Ihr habt in der Nähe einen Wagen«, sagte ich. »Ihr beiden holt ihn.«
»Er steht nicht auf der Straße.«
Ein Stoß beförderte den Anführer kopfüber in den Schlamm; ich stemmte ihm einen Fuß in den Rücken.
»Holt den Wagen!« befahl er.
Seine Komplizen eilten los.
»Glaubst du, sie kommen zurück?« fragte ich ihn.
Er schwieg.
Ich verlagerte den Fuß in seinen Nacken und drückte sein Gesicht in das schlammige Wasser. Er kam wieder hoch, schnappte nach Luft. »Ja!« stieß er hervor. »Ja!«
Er hatte recht. Seine beiden Kumpane kamen ein paar Ehn später zurück, mit dem Wagen. Wie ich erwartet hatte, stand er in der Nähe.
»Ladet euren Wagen aus«, befahl ich ihnen. »Und dann ladet ihr die Fracht um.«
Sie gehorchten. Wie ich es mir gedacht hatte, setzte sich die Ladung ihres Wagens aus allem möglichen Plunder zusammen, den sie den Flüchtlingen gestohlen hatten, die aus der Umgebung von Ar-Station am Vosk kamen und auf der Viktel Aria nach Süden unterwegs waren.
Der Kutscher kam mit seinem ausgeschirrten Tharlarion heran und machte es neben der anderen Zugechse fest. Es kannte seine Stimme und würde bereitwilliger gehorchen als das fremde Tier.
»Gebt dem Kutscher eure Geldbeutel«, sagte ich.
Sie taten es.
Ich nahm mir den Inhalt eines metallenen Münzenkästchens, das aus ihrem Wagen stammte, und leerte es in meine Börse. Das Kästchen enthielt etliche Münzen, vermutlich die Beute mehrerer Tage Arbeit. Der Wert der Münzen war klein, wie bei den ohnehin schmalen Geldbeuteln der Besitzer nicht anders zu erwarten gewesen war. Ihre Menge entschädigte jedoch mehr als ausreichend für ihren geringen Einzelwert. Es waren etwa siebzehn bis achtzehn Silbertarsk.