Ich hatte die Vorderseite des linken Gebäudes wieder erreicht, die Stelle, wo ich eben etwas Bemerkenswertes gesehen hatte.
»Löse mich aus!« rief eine der Frauen. »Ich bitte dich!«
»Nein, löse mich aus!«
»Nimm mich! Mich!«
Sie waren zu fünft. Man hatte ihnen die Hände hoch über den Köpfen angekettet, was ihre nackten, regennassen Körper auf hübsch anzusehende Weise streckte. Die Handschellen waren mit kurzen Ketten verbunden, die an stabilen Ringen endeten. Die Länge der Ketten richtete sich nach der Körpergröße der Frau.
»Kann es sein, daß du dich unbehaglich fühlst?« fragte ich die Frau, die mich als erste angesprochen hatte.
»Ja. Ja!«
»Das ist nicht überraschend, so wie du festgemacht bist.«
»Bitte!«
Sie riß an den Handschellen, stemmte sich gegen die Wand. Ihr schwarzes Haar war von dem unter das Dach hereinwehenden Regen klatschnaß und klebte ihr auf den Schultern und am Körper.
»Wende den Blick ab!« verlangte sie.
Ich strich ihr Haar zurück hinter die Schultern, so war es aus dem Weg. Angekettet, wie sie war, würde es ihr schwerfallen, es wieder nach vorn zu schieben. Falls erforderlich, konnte man es ihr natürlich im Nacken zusammenbinden.
»Bitte!« schluchzte sie.
An der Wand und dem Hof gab es insgesamt nur fünf Ringe, und sie waren alle belegt.
»Löse mich aus!«
»Ich soll dich kaufen?« vergewisserte ich mich.
»Niemals! Ich bin eine freie Frau!«
»Wir sind alle freie Frauen!« rief ihre Nachbarin.
Das war mir natürlich klar gewesen, da keine von ihnen den Kragen trug.
Die Schwarzhaarige zuckte zusammen, als ich ihren Schenkel überprüfte.
»Stell dich nicht so an«, sagte ich. »Du bist mindestens seit dem Nachmittag hier und bestimmt schon von mehreren Männern berührt worden.«
Ich konnte kein Brandzeichen entdecken, zumindest nicht an den von den Goreanern bevorzugten Stellen. Vermutlich handelte es sich tatsächlich um freie Frauen.
»Löse mich aus!« bettelte sie.
Hinter den Köpfen der Frauen hingen kleine Rechtecke aus Wachstuch, mit einem Nagel am Holz angeschlagen. Ich drehte eines um und las im Licht des nächsten Blitzes die auf der Rückseite notierten Zahlen.
»Wie heißt du?« fragte ich die Schwarzhaarige.
»Ich bin Lady Amina aus Venna. Ich war zu Besuch im Norden und mußte vor den anrückenden Cosianern fliehen.«
»Der Betrag, den man bezahlen muß, um dich auszulösen, beträgt vierzig Kupfertarsk, eine beträchtliche Summe.« Dieser Preis hatte auf der Rückseite des Wachstuches gestanden.
»Bezahl das Geld!« flehte sie. »Rette eine freie Frau von Adel aus der Gefahr. Ich werde dir ewig dankbar sein!«
»Nur wenige Männer gäben sich mit Dankbarkeit zufrieden.«
Sie zuckte ängstlich bis an die harte Wand zurück.
»Meine Rechnung beträgt nur dreißig Tarsk«, sagte ihre Nachbarin, eine Blondine.
»Meine fünfunddreißig!«
»Meine nur siebenundzwanzig!«
»Meine fünfzig«, weinte die fünfte Frau, »aber ich werde dafür sorgen, daß du deinen Einsatz nicht bereust.«
»Wie denn?« fragte ich.
»In der Art der Frauen!« sagte sie tapfer.
Schreie des Protests und der Wut ertönten.
»Seid nicht so selbstgerecht«, wies ich die vier anderen Gefangenen zurecht.
»Wir sind freie Frauen!« sagte Lady Amina.
»Ihr seid verdammte Zechprellerinnen!«
Amina keuchte entsetzt auf, als sie hörte, wie ich sie bezeichnete, zwei der anderen protestierten wütend. Die vierte Frau wimmerte, da sie wußte, daß ich recht hatte. Die fünfte schwieg.
Ich mußte daran denken, daß mich der Türsteher, nachdem er sich vergewissert hatte, daß ich keine Frau war, nach meinem Geld gefragt und mich erst eingelassen hatte, als ich eine beträchtliche Börse vorweisen konnte. Vielleicht war der Grund dafür die Überbelegung der Herberge und die in diesen ungewöhnlichen, gefährlichen Zeiten vermutlich in die Höhe getriebenen Preise.
»Bitte, nenn uns nicht so«, bat Amina.
»Was meinst du?«
»Was du gesagt hast.«
»Die Preise der Herberge sind doch bestimmt angeschlagen, oder man kann sie erfragen«, sagte ich.
Sie schwieg.
»Wußtet ihr nicht, daß ihr nicht genug Geld hattet?«
Sie schwiegen alle.
Ich packte Amina fester.
»Ja, ja«, keuchte sie. »Ich habe es gewußt!«
»Wir haben es alle gewußt«, sagte die Blonde. »Wir sind freie Frauen. Wir haben erwartet, daß die Gäste sich wie Ehrenmänner verhalten, Verständnis zeigen, sich um uns kümmern!«
Ich lachte, und sie alle erbebten. Ich ließ Aminas Kinn los.
»Lach nicht«, sagte sie trotzig.
»Ich will es einmal zusammenfassen«, sagte ich. »Ihr seid in die Herberge gekommen, trotz der Tatsache, daß euch die Mittel fehlen, um eure Verpflichtungen zu erfüllen, in der Erwartung, vielleicht damit durchzukommen, daß man eure Rechnung einfach übersieht oder euch in hilfloser Wut aus dem Haus weist, oder daß sich bereitwillige Männer finden, die für euch bezahlen, die darum wetteifern, leichtsinnigen freien Frauen zu Diensten sein zu können.«
»Sollten wir die Nacht auf der Straße verbringen wie Bäuerinnen?« empörte sich die dritte Frau.
»Aber es sind schwere Zeiten, und nicht alle Männer sind Narren!«
Sie schrie wütend auf und riß an den Fesseln. Sie war gutproportioniert, ausgewogene Nahrung und Körperertüchtigung würden ihr guttun. Auf einem Markt würde sie bestimmt sechzig Kupfertarsk erzielen. Falls die Herberge so verfuhr – wozu sie wegen der unbezahlten Rechnung das Recht hatte –, würde sie sogar noch einen Gewinn von fünfundzwanzig Kupfertarsk erwirtschaften.
»Als ihr entdecktet, daß ihr nicht genug Geld hattet, hättet ihr darum bitten können, euch die Übernachtung zu verdienen.«
»Wir sind doch keine Schankmädchen!« rief die Blonde.
»Bemerkenswert, daß dein erster Gedanke in diese Richtung geht«, sagte ich. »Ich hatte da an andere Dinge gedacht, an Arbeit in der Waschküche oder Putzen.«
»Das sind Sklavenarbeiten!«
»Viele freie Frauen tun sie.«
»Das sind Arbeiten für Angehörige der unteren Kasten«, sagte sie. »Nicht für hochrangige freie Frauen, wie wir es sind!«
»Und doch seid ihr nun an der Wand angekettet und tragt nicht einmal mehr einen Schleier.«
»Trotzdem sind wir freie Frauen von Rang, und solche Frauen haben es nicht nötig zu arbeiten.«
»Vielleicht werden Frauen wie du bald genau das tun müssen«, vermutete ich.
»Was willst du damit sagen?«
Ich beachtete sie nicht und wandte mich wieder der Lady Amina aus Venna zu. »Sind in der Herberge noch mehr von eurer Sorte?«
»Nur eine. Sie hat die höchsten Schulden. Für sie war hier draußen kein Ring mehr frei.«