Ich warf einen Blick zum Nachbartisch. Der Krieger hatte die Sklavin gepackt und sie bäuchlings auf den Tisch geworfen. Es schien ihr zu gefallen.
»Widerwärtig«, sagte Lady Temione.
Ich schwieg. Sie würde es auch noch lernen. Ich erhob mich und nahm die Tafel. In das Wachs war der Betrag von fünf Kupfertarsk eingekratzt. Wenn ich ihn zu der bis jetzt aufgelaufenen Rechnung dazuzählte, schuldete ich der Herberge bis jetzt neunzehn Kupfertarsk.
Ich verließ den Pagaraum. Der Krieger beachtete mich nicht; er war mit der Sklavin beschäftigt.
Der Verwalter war nicht mehr an seinem Tisch; seine Stelle hatte ein Angestellter übernommen. Er nahm die Tafel und notierte die Summe auf meiner Rechnung. Er behielt sie. Man würde die Wachsschicht glätten und sie bis zum nächsten Gebrauch in der Küche an ihrem Band aufhängen. Ich nahm die beiden Decken und mein Ostrakon in Empfang, auf dem die Nummer des Schlafplatzes stand. Das Geld für die Decken hatte ich zuvor aufschreiben lassen. Bevor ich ging, ließ ich von dem Angestellten noch ein Tarskstück auf die Rechnung setzen.
6
Auf der dritten Etage im südlichen Gebäude gab es einhundert Schlafplätze, allerdings trug keiner davon die Nummer einhundert. Der hundertste Platz befand sich ganz vorn am Eingang, in der linken Ecke, und trug die Zahl Null. Im Licht der wenigen Tharlarionöl-Lampen konnte man undeutlich große Zahlen ausmachen, die auf der linken und der hinteren Wand aufgemalt waren. Vom Eingang aus gesehen waren die Reihen von Null bis Neun durchnumeriert; die Reihen, die sich an der Rückwand entlangzogen, waren auf die gleiche Weise gekennzeichnet. Die Schnittstelle zweier Nummern zeigte dem Gast, wo sich sein Schlafplatz befand. Vom in der linken Ecke befand sich also der Platz ›Null‹, ganz hinten rechts Platz ›Neunundneunzig‹. Da in der goreanischen Schrift die erste Zeile von links nach rechts führt, mußte man folgerichtigerweise von den Zahlen auf der linken Wand ausgehen. Ein Beispieclass="underline" Die Schnittstelle der waagerechten Reihe sieben und der senkrechten Reihe drei ergab Platz dreiundsiebzig und nicht etwa siebenunddreißig. Der Platz in der hinteren linken Ecke war Platz neunzig; hier trafen sich die Reihen neun und null. Der vorderste Platz in der rechten Ecke trug die Zahl neun; hier stießen die Reihen null und neun zusammen. Diese Anordnung ermöglichte es einem, auf einen Blick zu sehen, welcher Schlafplatz einem zugeteilt worden war. Zu meiner Überraschung war mein Platz gar nicht so schlecht, wie der Verwalter gesagt hatte. Er befand sich zwar nicht in einer Ecke, lag aber zumindest an einer Wand. Hätte ein erhöhter Plankengang die Schlafplätze voneinander abgegrenzt, wäre alles kein Problem gewesen. Unglücklicherweise war dies nicht der Fall.
Plötzlich schrie jemand auf. »Es tut mir leid, Freund«, sagte ich. Ich hatte unweigerlich jemanden mit meinem Bündel getroffen. Das Licht war schlecht.
Ich beschloß, einen Augenblick lang dort stehenzubleiben, damit sich meine Augen besser an das Zwielicht gewöhnten. Jedoch begab ich mich vorsichtshalber außerhalb der Reichweite des Mannes, den ich gestört hatte. So konnte er mich nicht mehr erreichen, ohne das Risiko einzugehen, über ein paar andere Schlafende zu stolpern. Plankengänge wären wirklich keine schlechte Lösung gewesen. Sicher, man hätte aus einem Raum dieser Größe auch weniger Schlafplätze machen können. Der Verwalter hatte vermutlich die Vorzüge von guten Schlafplätzen, die eine einigermaßen vernünftige Breite von beispielsweise einem Meter aufwiesen und seiner Vorstellung von einer erstklassigen Herberge entsprachen, gegen die größte Anzahl von Schläfern abgewogen, die er in einen Raum packen konnte. Verwalter und Kaufleute sehen sich solch schwierigen Fragen gegenüber. Übrigens waren die zweite und dritte Etage durch schmale Treppen statt durch Leitern erreichbar, wie es in einigen Herbergen üblich ist. Zweifellos stärkte diese Annehmlichkeit das Argument des Verwalters, daß er ein erstklassiges Haus rührte – zumindest was diese Gegend anging. Ich wußte es nicht. Vielleicht hatte er ja recht. Genug Geld verlangte er jedenfalls. Außerdem hatte mein bärtiger Freund, der Krieger aus Artemidorus’ Kompanie, beschlossen, hier zu übernachten, und er machte nun wirklich den Eindruck eines Mannes, für den das Beste gerade gut genug war.
Ich begab mich zu meinem Platz. Dort sah ich mich um. Nicht alle Schlafplätze waren belegt. Zum Beispiel war Platz achtundneunzig noch frei. Aber im Prinzip war die Etage voll belegt. Mir kam der Verdacht, daß die leeren Plätze von Leuten verlassen worden waren, die sehr frühzeitig aufgebrochen waren. Manche Reisende brachen mitten in der Nacht auf, um am frühen Nachmittag in der nächsten Herberge einzukehren. So können sie darauf vertrauen, stets die beste Unterbringung zu bekommen. Die meisten Herbergen verlangen, daß man seinen Raum spätestens bis zur zehnten Ahn, also mittags, verläßt.
Ich hatte gerade die Decken auf dem Boden meines Schlafplatzes ausgebreitet und mein Bündel so hingelegt, daß es als Kopfkissen diente, als ein Hausdiener den Raum betrat. Er trug eine an den Händen gefesselte Frau auf der Schulter. Ich winkte ihn heran, und er bahnte sich geschickt einen Weg zwischen den Schlafenden. »In einer Ahn komme ich wieder«, sagte er und setzte seine Last ab.
»Du!« sagte Lady Temione.
»Pst«, machte ich. »Die Leute hier wollen schlafen.«
Sie wollte sich auf die Füße kämpfen, aber ich setzte sie sanft auf die Decke und legte sie auf die Seite.
»Das ist ein schrecklicher Fehler«, flüsterte sie. »Du weißt, daß ich eine freie Frau bin.«
»Ja.«
Man hatte ihr die Fesseln abgenommen, ihr aber die Handgelenke auf den Rücken gebunden. Eine schwere Kette zierte nun ihren Hals, in drei engen, unverrückbaren Schleifen, Zwei Glieder dieser Kette waren mit schweren Vorhängeschlössern aneinandergeschlossen. Es handelte sich dabei aber nicht um die Endstücke; die ragten zu beiden Seiten vorn nach unten, in einer kleidsamen, krawattenähnlichen Anordnung. Natürlich hatte das auch praktische Aspekte. In der Nähe des Schlosses hing ein Anhänger aus Eisen. In der Dunkelheit wäre er mir beinahe entgangen. »Dann mach mich los!« flüsterte sie. »Ich verstehe nicht.«
»Du hast zugestimmt, daß es ein schrecklicher Fehler ist!«
»Nein, nein«, erwiderte ich. »Das Ja bezog sich auf die Tatsache, daß du eine freie Frau bist.«
»Ich begreife nicht, was ich hier soll, nackt und gefesselt an deiner Seite.«
»Tatsächlich nicht?«
»Das kann nicht dein Ernst sein!« Temione war fassungslos.
»Warum denn nicht?«
»Ich bin frei!«
»Aber du hast deine Rechnung noch nicht bezahlt.«
Sie schnaubte ärgerlich.
»Was willst du mit mir machen?«
»Was glaubst du?«
»Nicht das!«
»Genau das!«
»Ich bin kein Schankmädchen. Ich bin nicht für die Gäste da.«
»Hat man dir das gesagt?«
»Nein«, antwortete sie zögernd.
»Also?«
»Aber ich nahm an, da ich…«
»Bist du noch Jungfrau?«
»Das ist doch wohl eine persönliche Angelegenheit, die nur mich etwas angeht.«
»Es kostet mich nicht viel Mühe, das festzustellen«, sagte ich.
»Nein«, sagte sie und wich zurück. »Ich bin keine Jungfrau.«
»Also mußt du mindestens ein oder zweimal jemanden für seine Dienste bezahlt haben.«
»Das waren keine Ehrenmänner.«
»Ich glaube, du wirst entdecken, daß du von jetzt an in solchen Dingen nicht mehr handeln kannst.«
»Ich verstehe nicht.«
»Ich bin froh, daß du keine Jungfrau mehr bist«, sagte ich. »Das erleichtert unsere Beziehung.«
»Muß ich dir wirklich zur Verfügung stehen?«
»Ja. Ich habe für dich bezahlt.«
»Bezahlt?«
»Ja.«
»Das muß aber schrecklich teuer gewesen sein«, sagte sie beeindruckt. »Vielleicht sollte ich mir Mühe geben, dich zufriedenzustellen.«