Das Bündel befand sich auf meinem Rücken.
In dem Stall war nur ein Tarn, offensichtlich der Vogel eines Kriegers.
Aus einer Hütte neben dem Stall kam ein Stallbursche.
Von links fuhr ein Wagen vorbei. In dieser Richtung lagen die Tharlarionställe. Es waren schon viele Leute auf den Beinen. Ich blickte in die Höhe, hinauf zu dem Turm, der das Tarnfeuer beherbergte. Es war natürlich nicht entzündet. Das Tor, vor dem ich stand, befand sich auf der rechten Seite des Herbergsgeländes. Näherte man sich der Herberge aus der Luft, auf dem Rücken eines Tarns, stand das Tor auf der linken Seite.
»Mach den Vogel bereit!« befahl ich.
Der Stallbursche schien kurz zu zögern; er betrachtete meine Aufmachung, das cosische Blau, die Feldzeichen von Artemidorus’ Söldnerkompanie, den Helm, vor allem die Waffen. Denn ich trug zwei Schwerter.
«Sofort!« sagte ich.
Er eilte zurück in die Hütte, wo zweifellos die Ausrüstung des Kriegers verstaut war, der Sattel, das Tarngeschirr und was man sonst noch brauchte. Ich glaube, der Stallbursche wollte vermeiden, einen Angehörigen von Artemidorus’ Kompanie länger als nötig aufzuhalten. Vielleicht hatte er es zu seinem Schaden schon einmal getan.
Ich blickte zum Haupthaus zurück. Alles schien seinen normalen Gang zu gehen.
Das große Schild, das an dem waagerechten Balken von seinen Ketten hing, schwankte nicht. Einige Wagen fuhren ab. Nach dem Regen roch die Welt frisch und sauber. Auf dem Steinboden des Hofes standen Pfützen.
Der Stallbursche kam aus der Hütte. Er hatte sich Sattel, Satteltuch und den Rest der Ausrüstung auf die Schulter geladen.
»Das Tarntor steht offen, nehme ich an?« sagte ich.
»Ja.«
»Gut.«
Offensichtlich hatte ich es eilig. Er war ohne Zweifel an ungeduldige Gäste gewöhnt. Es hätte ihn jedoch überrascht, wie eilig ich es tatsächlich hatte.
Er betrat den Stall, um den Vogel bereitzumachen.
Ich ging um Stall und Anbau herum, denn ich wollte mich überzeugen, daß das Tarntor tatsächlich offenstand. Es stand offen. Es war natürlich nicht wegen meiner Abreise geöffnet worden, sondern blieb den Tag über für Neuankömmlinge offenstehen. Die beiden Flügel schwangen nach innen auf und wurden an den Seiten der Landeplattform festgemacht, die die Palisade etwa einen halben Meter überragte. Die Plattform wies eine Verlängerung auf, die bei Toresschluß eingezogen werden konnte; mit Scharnieren befestigte senkrechte Stützpfeiler sorgten für Stabilität. Im Innern des Tarnstalls führte auf der rechten Seite eine Rampe zur Plattform. Die Torflügel waren sehr groß, jeder von ihnen wies eine Höhe von neun sowie eine Breite von siebeneinhalb Metern auf. Für ihre Größe sind sie allerdings recht leicht, da sie hauptsächlich aus mit Draht bespannten Rahmen bestehen. Obwohl diese Abmessungen gewöhnlichen Sattel- und Kriegstarns einen ungehinderten Einflug erlauben, werden meistens die Landeplattformen benutzt. Mit Tarnkörben ausgestattete Lasttarns landen natürlich immer darauf. Der Lasttarn vollführt eine flatternde Landung. Sobald er spürt, daß der Korb Bodenberührung bekommt, setzt er sich. Die schräge Rampe erleichtert es, den Tarnkorb auf seinen Lederkufen in den Hof zu transportieren. Passagiere genießen den gleichen Vorzug.
Nicht alle Tarntore sind derart beschaffen. Bei einer weitverbreiteten Bauweise hängen die Torflügel vor der Toröffnung. In Schienen eingepaßt schiebt man sie beiseite. Jedes Öffnen erweckt den Eindruck, als würde man ein Tor zum Himmel öffnen. Der dazugehörige Bau mit seinen Plattformen, Laufgängen und schiffs-mastähnlichen Balken ist sehr stabil. Die Laufgänge und Plattformen sind mit schmalen Leitern erreichbar. Diese Bauart verlangt von den Vögeln, daß sie für die Landung erst auf der Stelle schweben müssen, was sehr zeitaufwendig ist. Dafür ist die Landeplattform unnötig. Der Tarnstall im Krummen Tarn ähnelte insofern einem militärischen Stall, als er das schnelle Aufsteigen und die ebenso schnelle Rückkehr des Tarnsmanns zuließ – verbunden mit der Möglichkeit, das Tor innerhalb weniger Ihn zu öffnen und wieder zu schließen. Die Bauweise des Tarntors war ein deutlicher Hinweis, daß der Krumme Tarn möglicherweise nicht immer als Herberge gedient hatte. Vermutlich hatte das Areal vor der Gründung von Ar-Station als Garnison gedient, um den nördlicheren Teil der Vosk-Straße zu überwachen. Die Nähe zum Vosk war ein weiteres Indiz für diese Theorie, da der Fluß höchstens einhundert Pasang entfernt lag. Die normale Marschleistung eines goreanischen Fußsoldaten beträgt auf einer Militärstraße fünfunddreißig Pasang. Die Herberge Zum Krummen Tarn befand sich also genau drei Tagesmärsche vom Fluß entfernt.
Ich lockerte die Klinge in ihrer Scheide und kehrte zum Tarnstall zurück.
Der Tarn war bereit.
Er zerrte an einem Stück Tarskfleisch, das an einem Strick hing. Der Strick war fast sechs Zentimeter dick. Wie das Fleisch in der Luft schwebte, erinnerte mich an die Art und Weise, in der Bauersfrauen ihre Braten zubereiteten; sie banden sie an einem Bindfaden fest und ließen sie über dem Feuer baumeln, um ihnen dann gelegentlich einen Stoß zu versetzen. Durch das Umherbaumeln wird das Fleisch gleichmäßig gar, und zwar ohne ständige Aufsicht oder Umdrehen. Der Strick, der wie eine Bogensehne gespannt war, riß plötzlich eine Handbreit über dem Fleisch. Der Tarn packte es mit einer Klaue und schälte es vom Knochen. Ich wartete ab, bis der Vogel fertig war. Der Knochen lag zusammen mit den Resten des Stricks im Stroh. Er wies tiefe Furchen auf. Der Vogel stieß den Schnabel in einen hohen schmalen Behälter. Als nächstes würde er Wasser in den schrecklichen Rachen saugen und den Kopf in den Nacken legen. Dann würde er den Kopf schütteln, damit das Wasser schneller die Kehle hinunterlief.
Ich wartete geduldig ab. Schließlich führte der Stallbursche den Vogel die Rampe zur Landeplattform hinauf. Ich schloß mich den beiden an. Von hier oben konnte man Pasang weit in die umgebende Landschaft blicken. Die Luft war berauschend. Der Tarn war aufgeregt. Er öffnete die Flügel. Die Balken der Plattform waren ausgesprochen stabil. Der Stallbursche löste die fünfsprossige Strickleiter, mit deren Hilfe man in den Sattel steigt. Ich benutzte sie. Als ich im Sattel saß, legte ich den Sicherheitsgurt um und schnallte ihn fest.
Vor langer Zeit war ich in der Nähe von Ar sträflich nachlässig mit dem Gurt umgegangen. Nur ein glücklicher Zufall ließ mich überleben. Seitdem hatte ich diese Vorsichtsmaßnahme nur selten vernachlässigt. Ich mußte an Talena denken, die geschmeidige, sinnliche Tochter des Marlenus aus Ar mit der olivfarbenen Haut, die er verstoßen hatte, nachdem sie zu erkennen gab, daß sie eine Sklavin war. Nachdem Samos aus Port Kar sie als ihr neuer Besitzer in Ketten nach Ar zurückgebracht hatte, hatte Marlenus sie beschämt vor der Welt im Zentralzylinder verborgen und ihr die Freiheit zurückgegeben, ihr aber jeden Status verweigert. Nachdem er auf einer Strafexpedition gegen die Tarnsmänner von Treve in den Bergen der Voltai verschwunden war, hatte sich ihr Schicksal anscheinend gewandelt. Sie war bei öffentlichen Feiern aufgetreten. Man sah ihre Sänfte wieder auf der Straße. Zweifellos war sie wieder stolz und hochmütig geworden. Ich hatte in ihr keine Sklavin gesehen. Rask aus Treve und andere schon. Heute wäre ich vermutlich scharfsichtiger. Obwohl sie die Tochter eines Ubars gewesen und in Ar wieder zu hohem Ansehen gelangt war, war sie trotz allem nur eine Frau. Ich fragte mich, wie sie wohl aussähe, nackt und in Ketten, sich zu meinen Füßen windend, während sie versuchte, meine Aufmerksamkeit zu erwecken. Es war eine erfreuliche Vorstellung. Ich mußte daran denken, welche Verachtung sie mir in Port Kar entgegengebracht hatte, wie hochmütig und bösartig sie gewesen war; sie hatte sogar die Erinnerung an unsere Liebe in den Schmutz gezogen, während ich gelähmt im Stuhl gesessen hatte, unfähig zur geringsten Bewegung, ein Opfer von Sullius Maximus’ Gift. Vor der Herrschaft des Kapitänrates war er einst einer der fünf Ubars von Port Kar gewesen. Ich fragte mich, ob sie annahm, ich befände mich noch immer in Port Kar, ein Krüppel, der zusammengesunken in demselben Stuhl vor dem Kaminfeuer hockte. Aber ich war wieder vollständig gesundet, hatte in Torvaldsland sogar das Gegenmittel für das Gift gefunden. Allerdings war es möglich, daß Talena mich von ihrer Sänfte aus in Ar gesehen hatte. Am darauffolgenden Abend hatte man im Tunnel, einem von Ludmillas Freudenhäusern, einen Anschlag auf mein Leben verübt. In der Nähe von Brundisium hatte ich Beweise gefunden, daß sie sich des Verrats an Ar schuldig gemacht hatte.