Ich flog!
Eine Zeitlang ließ ich dem Vogel seinen Willen; nachdem wir einige Pasang zurückgelegt hatten, ließ ich ihn einen großen Kreis beschreiben, dessen Mittelpunkt die sich tief unter uns befindliche Herberge war.
Wenn man das erste Mal ein neues Reittier besteigt oder – ein ähnlicher Fall – sich eine neue Frau gefügig macht, ist es angebracht, ihre Fähigkeiten und ihr Wesen auszuloten. Im Falle des Tarns kann das eigene Leben davon abhängen, daß man seine Schnelligkeit kennt, sein Steigvermögen, die Enge seiner Kurven und dergleichen mehr.
Der Vogel hielt sich prächtig in der Luft.
Er gewann an Höhe. Der Aufstieg verlief steil und schnell. Die Luft wurde kalt. Ein derartiges Manöver ist oft sehr nützlich. Es hatte mich mehr als einmal über meine Gegner getragen, deren Angriffsgeschwindigkeit eine schnelle Angleichung der Flugbahn verhinderte. Es dauerte ein paar Ehn, dann hatte ich die annähernde Flughöhe des Vogels in Erfahrung gebracht. Ich war weit vom Boden entfernt. Zu meiner Rechten schimmerte die Oberfläche eines Sees wie eine Pfütze. Ich hatte nicht einmal gewußt, daß es ihn gab. Tief unter mir, zur linken Hand, schlängelte sich die Vosk-Straße in der Sonne wie ein heller Strich über das Land. Ich zog am vierten Zügel, und der Tarn stieß jäh in die Tiefe. Das machte er sehr gut. Die Geschwindigkeit eines solchen Sturzfluges ist unglaublich. Selbst wenn er im letzten Augenblick aufgefangen wird, reicht die Wucht aus, das Rückgrat eines ausgewachsenen Tabuks zu brechen. Als wir noch etwa vierzig Meter vom Boden entfernt waren, zog ich an den Zügeln, und der Vogel ging in waagerechten Flug über und schwebte niedrig über dem Gras. Bei einem solchen Flug kann man die Deckung eines Waldes, niedriger Hügel oder sogar die von Gebäuden ausnutzen, um sich einem Ziel anzunähern. Natürlich vermindert der niedrige Flug im allgemeinen die Gefahr, gesehen zu werden.
Ich ließ den Tarn in die Nähe der Herberge zurückfliegen.
Dann flog ich dreimal über den Krummen Tarn hinweg, zweimal über die Palisade und den Tarndraht und einmal über Brücke und Tor.
Beim ersten Mal ließ ich den Tarn etwa vierzig Meter über dem Hofboden auf der Stelle schweben, ein Stück links hinter dem Hauptgebäude. Dort hockte ein großer, nackter, muskulöser, bärtiger Mann; er war mit starken Ketten an einen Sleenring gekettet, dessen Platte in den Felsen eingelassen worden war. Hand- und Fußgelenke waren ziemlich dicht an den Ring gefesselt. Es war der Krieger aus der Kompanie des Artemidorus. Er hatte wohl nicht die Mittel gehabt, um die Rechnung zu bezahlen. Als er mich sah, wurde er plötzlich ganz aufgeregt. Allerdings konnte er kaum mehr tun als in die Hocke zu gehen, sich gegen den Ring zu stemmen und den Kopf in den Nacken zu legen. Er kreischte etwas, das ich allerdings nicht verstehen konnte. Vielleicht war es auch besser so. Ich winkte ihm fröhlich mit der Kuriertasche zu, bevor ich weiterflog. Er schien nicht besonders darüber erfreut zu sein, wie sich die Ereignisse entwickelt hatten. Und wenn ich ehrlich war, konnte ich es ihm nicht einmal verübeln.
Beim zweiten Überflug machte ich vor dem linken Gebäude halt. Dort hatten die Ketten die erfreuliche Bekanntschaft der hübschen Gefangenen gemacht, deren Namen, wie ich von Lady Temione im Pagaraum erfahren hatte, Rimice, Klio und Liomache lauteten; sie stammten aus Cos, Elene und Tyros. Dann war da noch Amina gewesen, die Bürgerin aus Venna. Die Ketten waren nun leer. Ich hatte mir am frühen Morgen die Freiheit genommen, sie durch meinen Beauftragten, einen prächtigen, wenn auch etwas zu duldsamen und kleinmütigen Burschen namens Ephialtes, einen Marketender, auslösen zu lassen. Die fünf Frauen hatten mich einhundertzweiundachtzig K.T. gekostet, was eine gewaltige Lücke in meinem Anteil an der Beute von Androns Bande gerissen hatte.
Zweifellos waren sie zuerst begeistert gewesen, daß ihre Schulden bezahlt worden waren. Sie hatten bestimmt gelacht und vor Freude in die Hände geklatscht. Aber ihre Begeisterung hatte dann ein jähes Ende gefunden, als sie erlebten, wie man ihnen Eisenkragen anlegte. Ich hatte durch Ephialtes auch die Lady Temione ausgelöst, was mich einen Silbertarsk fünf kostete. Das war viel Geld, aber sie würde gut auf den Knien aussehen, nur mit einem Kragen bekleidet. Alles in allem hatten mich die Frauen zwei Silbertarsk und siebenundachtzig Kupfertarsk gekostet, wenn man den gängigen Kurs zugrunde legte, nach dem man für einen Silbertarsk einhundert Kupfertarsk bekam. Wenn alles nach Plan verlaufen war, befanden sich die Frauen auf dem Weg nach Ar-Station, vermutlich an Ephialtes Wagen gekettet. Es kam mir weniger darauf an, mit ihnen einen Gewinn zu machen. Das war nicht ihre wesentliche Rolle in meinem Plan.
Beim dritten Flug über die Herberge blieb ich kurz in der Nähe der Brücke schweben. Dort standen noch ein paar Wagen. Besonders einer davon erregte meine Aufmerksamkeit. An seiner Seite kniete eine stämmige blonde Frau. Sie war nackt. Um ihren Hals hing eine schwere Kette, die unter den Wagen führte, wo sie befestigt war. Ein Mann mit einer Peitsche in der Hand stand vor ihr. Ich sah, wie die Frau den Kopf senkte. Es handelte sich nicht um die dunkelhaarige schlanke Schönheit die sich am vergangenen Abend schaudernd in die Plane gehüllt hatte.
Die hatte Ephialtes, wenn alles gut vonstatten gegangen war, am Morgen gekauft. Sie wäre das erste Mädchen in dem Sklavinnenzug ›freier Frauen‹ und würde die anderen in den nötigen Disziplinen unterweisen, wie man einem Mann Freude bereitete; die Lektionen würden ihr Leben bald entscheidend verändern und bereichern.
Die Wagenplane war zurückgeschlagen, vermutlich um seine vom Sturm feucht gewordene Ladung zu durchlüften. Bis auf das Pärchen an seiner Seite schien sich niemand in seiner Nähe aufzuhalten. Ich hegte nicht den geringsten Zweifel daran, daß die blonde Frau die ehemalige freie Gefährtin des Mannes war. Das Mädchen, das die Nacht unter dem Wagen verbracht hatte, war von dem Wagenbesitzer hauptsächlich aus dem eher lächerlichen und fehlgeleiteten Grund gekauft worden, seine Gefährtin zu ermuntern, ihre Beziehung ernster zu nehmen. Offenbar hatte sie das dann auch getan, zumindest in dem Sinn, daß sie die Sklavin mit ausgesuchter Bösartigkeit behandelte. Aber jetzt war die Sklavin weg, und die Kette lag um ihren Hals. Anscheinend war er zum Herzen der Angelegenheit vorgedrungen. Es bestand kein Zweifel, daß sie ihre Beziehung von nun an ernst nehmen würde.
Ich ließ den Tarn wenden und auf vernünftige Reisehöhe steigen. Unter mir erstreckte sich die Vosk-Straße, wir flogen nach Norden. Ein reguläres Regiment goreanischer Infanterie hätte bei normaler Marschgeschwindigkeit und einschließlich der Zeit, die es brauchte, um am Nachmittag ein befestigtes Lager aufzuschlagen, vom Krummen Tarn bis nach Ar-Station drei Tage gebraucht. Ephialtes und sein Wagen würden vermutlich die gleiche Zeit brauchen, vorausgesetzt, er ließ die Mädchen fahren. Goreanische Fußsoldaten werden in der Regel von den Wagen der Nachschubkolonne begleitet; Marketender und Sklavenhändler benutzen die gleichen Fahrzeuge.
Ich kannte nicht einmal den Namen der Sklavin, die mir am vergangenen Abend unter dem Wagen solches Vergnügen bereitet hatte. Eigentlich hatte das auch keine Rolle gespielt, da sie eine Sklavin war, also hatte ich mir auch nicht die Mühe gemacht, sie nach ihrem Namen zu fragen. Nun, da sie in meinen Besitz übergegangen war, sollte ich ihr einen Namen geben. Es machte die Dinge einfacher. Die Zeit unter dem Wagen war wirklich schön gewesen. Das Mädchen hatte ausgesehen wie eine ›Liadne‹. Das war ein schöner Name. Ja, so würde ich sie nennen. Auch wenn sie es noch nicht wußte, sie war ab jetzt Liadne.