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»Nein«, sagte ich.

»Sie sind so neugierig.«

Ich schwieg.

»Shirley?« rief er, ohne einen Blick an sie zu verschwenden.

»Herr?« fragte sie von der Seitentür her, an der sie stand.

»Erinnere mich heute abend daran, dich zu bestrafen!«

»Ja, Herr!« schluchzte sie, wandte sich um und floh aus dem Raum.

»Sie sind Frauen«, sagte ich. »Sie können nichts dafür.«

»Mich stört nicht, was sie getan hat«, sagte er. »Sie wird bestraft, weil sie es getan hat.«

»Ich verstehe.«

»Selbst in schweren Zeiten ist es gut, die Disziplin aufrechtzuerhalten.«

»Zweifellos.«

»Weißt du, wo du bist?« fragte er.

»Nein.«

»Du befindest dich in der Zitadelle.«

»Das habe ich mir gedacht.« Es war ein logischer Ort für das Hauptquartier der Stadt.

»Du bist Tarl, ein Mann aus Port Kar? Das hast du meinen Männern auf der Mauer gesagt?«

Ich nickte. »Ich bin Tarl aus Port Kar.«

»Und du behauptest, der Kurier des Regenten zu sein?«

»Ich bin der Kurier des Regenten«, sagte ich. »Warum bin ich noch immer nackt und gefesselt?«

»Warum sollte der Regent einen Bürger Port Kars zum Kurier machen? Findest du das nicht merkwürdig?«

»Vielleicht«, antwortete ich. »Ich habe ihm Briefe von Dietrich von Tarnburg überbracht. Möglicherweise kam ihm der Gedanke, ich könnte Ar auf ähnliche Weise dienen.«

»Dietrich, der Tarn von Tarnburg?« fragte er überrascht.

»Vielleicht nennen ihn einige so«, sagte ich. »Ich bin nie Zeuge geworden, daß er diesen Ausdruck benutzt, ich kann mich auch nicht erinnern, daß es die Leute seiner Umgebung getan hätten. Ich glaube nicht einmal, daß ihm diese Bezeichnung gefiele.«

»Und wie sieht er sich?« fragte Aemilianus.

»Als Dietrich«, sagte ich. »Als Dietrich von Tarnburg, ein Soldat, ein Hauptmann.«

»Dietrich vom silbernen Tarn?«

»Es stimmt, sein Feldzeichen ist der silberne Tarn.«

»Er ist ein Söldner«, sagte Aemilianus bitter.

»Er hält zur Zeit Torcodino besetzt, um den Vorstoß der Cosianer nach Süden aufzuhalten.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Aemilianus.

Erst in diesem Augenblick begriff ich das Ausmaß der Isolierung von Ar-Station. Aemilianus kannte nicht einmal so grundsätzliche Tatsachen wie die Vorstöße Dietrichs von Tarnburg.

»Darüber steht doch sicherlich etwas in Gnieus Lelius’ Brief oder Briefen, die ich überbracht habe.«

»Auch du bist ein Söldner «, sagte er verächtlich.

»Ich bin bezahlt worden«, bestätigte ich.

»Jedermanns Gold kann dein Schwert kaufen«, sagte er.

»Vielleicht nicht jedermann«, antwortete ich. Viele Söldner suchen sich ihre Auftraggeber mit großer Sorgfalt aus.

»Ist dir der Inhalt der Kuriertasche bekannt? Denn darum scheint es sich hier ja zu handeln.«

»Nein«, sagte ich. »Wie dir nicht entgangen sein dürfte, war ihr Siegel ungebrochen.«

»Vielleicht hat man dir gesagt, was sie enthält, bevor sie versiegelt wurde.«

»Nein. Ich habe sie in der Herberge Zum Krummen Tarn einem von Artemidorus’ Kurieren abgenommen. Das habe ich deinen Männern gesagt.«

»Und du erwartest, daß ich das glaube?«

»Wie hätte ich sie sonst bekommen sollen?« fragte ich.

»Vielleicht aus den Händen von Artemidorus persönlich.«

»Ich verstehe nicht.«

»Ich bin durchaus bereit, dir zu glauben, daß du über den Inhalt der Tasche nicht Bescheid wußtest.«

»Warum?« fragte ich verblüfft.

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß du es gewagt hättest, hierher zu kommen, hättest du über ihren Inhalt Bescheid gewußt.«

Mir gefiel gar nicht, was ich da hörte. »Was ist der Inhalt?«

»Er ist nicht einmal verschlüsselt«, sagte Aemilianus. »Findest du es nicht ungewöhnlich, daß Artemidorus, ein Tarnsmann, ein gerissener Befehlshaber, militärische Dokumente auf so sorglose und offene Weise transportiert?«

»Vielleicht ist er vermessen oder hochmütig«, sagte ich. »Ich weiß es nicht.«

»Kommt es dir nicht merkwürdig vor?«

»Doch, ja.«

»Ich glaube, ich sollte diese Dokumente erhalten«, sagte Aemilianus.

»Das bezweifle ich«, meinte ich. »Was steht darin?«

»Es handelt sich um einen Bericht des Geheimdienstes. Er beschreibt Stärke und Position von Ars Heer.«

»Darf ich fragen, wo es sich befindet?« Ich hatte oft darüber nachgedacht.

»Ich werde dir verraten, wo es wirklich ist«, sagte Aemilianus. »Es kommt uns in einem Gewaltmarsch zu Hilfe.«

»Auf welcher Route?« fragte ich überrascht.

»Auf der Viktel Aria, nach Norden!«

»Nein«, sagte ich. »Ich bin auf der Viktel Aria gekommen. Da ist das Heer nicht. Niemand hat es gesehen, nicht im Umkreis von Hunderten von Pasang.«

Aemilianus lächelte.

»Darf ich fragen, wo es dem Bericht zufolge ist?«

»Der Bericht behauptet, es befinde sich vor Holmesk, einhundert Pasang südlich des Vosk, im Winterlager.«

»Im Winterlager? Während Cos vor Torcodino steht und Ar-Station belagert wird?«

»Du begreifst, wie lächerlich dieses Dokument ist?« fragte Aemilianus.

»Allerdings«, sagte ich beeindruckt.

»Wäre dir dies bekannt gewesen, hättest du den Transport vielleicht abgelehnt«, sagte er mit einem Lächeln.

Ich wollte aufstehen, aber man stieß mich zurück auf die Knie.

»Kommandant, ich gebe zu bedenken, daß dieser Bericht die Wahrheit sein könnte, so unglaublich es auch scheint«, sagte ich drängend. Die Situation nahm plötzlich alarmierende Konturen an. Im Gegensatz zu Aemilianus war ich davon überzeugt, daß der Bericht – von Einzelheiten abgesehen – der Wahrheit entsprach.

Aemilianus lachte, und einige der Soldaten schlossen sich ihm an.

»Wo ist denn der Entsatz aus Ar?« fragte ich. »Wo?«

Aemilianus warf mir einen wütenden Blick zu.

»Auch wenn ihr hier isoliert seid und belagert werdet«, sagte ich, »so müßte euch doch klar sein, daß die Belagerung von Ar-Station kein Geheimnis sein kann. Hätte man ein Entsatzheer losgeschickt, wäre es schon längst eingetroffen. Auch wenn du der Zukunft voller Optimismus entgegensiehst, so kann ich mir doch nicht vorstellen, daß deine Männer auf der Stadtmauer diese Einstellung teilen. Ich habe sie gesehen. Sie sind hungrig. Sie sind abgemagert. Sie sind verzweifelt. Auch wenn du anders darüber denkst – meiner Meinung nach haben sie begriffen, daß ein Entsatzheer schon vor langer Zeit hätte eintreffen müssen!«

Ich hörte, wie hinter mir ein Schwert zur Hälfte aus der Scheide gezogen wurde. Dann wurde es genauso wütend wieder hineingerammt.

»Der Bericht ist falsch«, sagte Aemilianus. »Er ist nicht einmal klug verfaßt. Die Stärke des bei Holmesk überwinternden Heeres würde bewirken, daß sich fast sämtliche Divisionen Ars im Norden aufhalten, was undenkbar ist. Man braucht keine so große Streitmacht, um eine Belagerung zu beenden. Ar wäre in diesem Fall ohne jede Verteidigung, seine Territorien, ja, die Stadt selbst wäre der Gnade der Salerianer, der Travianer oder der Tharnianer ausgeliefert, sogar den Heeren kleiner Städte wie Tarnburg oder Hochberg.«

Ich sagte: »Es könnte Verrat im Spiel sein.«

Hinter mir erscholl ärgerliches Gemurmel.

»Man könnte euch aufgegeben haben.«

»Laß mich ihm die Kehle durchschneiden«, sagte ein Mann hinter mir.

»Allein Dietrich steht zwischen Ar und Cos«, fuhr ich fort, »in Torcodino, wo er den cosischen Nachschub und ihr Belagerungsgerät erbeutet hat.«

»Er hätte Torcodino nicht einnehmen können«, sagte Aemilianus. »Dafür hat er zu wenige Leute.«

»Er hat die Stadt durch einen Überraschungsangriff besetzt, über die Aquädukte.«

»Er hätte zu wenige Männer, um die Stadt halten zu können«, sagte Aemilianus.

»In Torcodino ist ihm das cosische Belagerungsgerät in die Hände gefallen«, sagte ich. »Den letzten Nachrichten zufolge ist die Stadt zwar eingeschlossen, aber nicht angegriffen worden. Tatsächlich hat der größte Teil des cosischen Expeditionsheeres, das dem Heer von Ar keineswegs zahlenmäßig unterlegen ist, wie ich dir versichern kann, vermutlich das Winterlager bezogen, und ein Zehntel der Truppen befindet sich in der Umgebung von Torcodino. Die Situation, in der Cos sich befand, war eindeutig. Cos konnte ohne das Belagerungsgerät nicht weiter vorrücken, und es würde mehrere Monate brauchen, um das Material zu ersetzen.«