»Und was wird deiner Meinung nach geschehen?« fragte Aemilianus.
»Das weiß ich nicht«, antwortete ich. »Sobald Cos über neues Gerät verfügt, könnte es Torcodino angreifen, und sei es nur, um Dietrich zu bestrafen. Myron ist der Polemarkos von Cos, der Befehlshaber des Expeditionsheeres; ich an seiner Stelle würde mit Torcodino, einem nebensächlichen Objekt, keine Zeit verschwenden, sondern sofort auf Ar zu marschieren. Dietrich könnte dann zwar entkommen, aber mit seinen wenigen Männern könnte er den cosischen Vorstoß bestenfalls behindern, aber nicht aufhalten. Außerdem könnte man in diesem Fall seine Kompanien jagen und vernichten, dazu bedürfte es nur einen kleinen Teil des cosischen Heeres.«
»Warum sollte Dietrich sich auf ein so gefährliches Unternehmen wie die Einnahme von Torcodino einlassen?«
»Dort gibt es reiche Beute zu machen«, sagte ich.
»Die kann man in Hunderten von Städten finden.«
»Seine Sympathien gehören weder Ar noch Cos«, erklärte ich. »Er zöge es vor, daß keiner von beiden siegt. Ein solcher Sieg, gleichgültig, von welcher Seite, und die dadurch entstehende Hegemonie würden sicherlich die Existenz der freien Söldnerkompanien bedrohen oder sie sogar vernichten. Davon abgesehen wird allgemein befürchtet, daß ein solcher Sieg die soziale Vielfalt, den Pluralismus und die Freiheit zerstört, wie wir sie jetzt auf Gor haben.«
»Und du teilst diese Befürchtungen?«
»Ich wäre wenig begeistert über eine Welt, die allein von Marlenus aus Ar oder Lurius aus Jad beherrscht wird.«
»Ist denn der Frieden nicht wichtiger als alles andere?« fragte Aemilianus.
»Nein.«
»Es fällt mir schwer zu glauben, daß dein Eintreten für diese Dinge in einer solch abstrakten Richtung liegt.«
Darauf antwortete ich nicht. Er brauchte meine eigentlichen Beweggründe nicht zu erfahren, die ich nur wenigen anvertraute und weswegen ich die Reise nach Ar ursprünglich angetreten hatte, eine Reise, auf der es mich nur zufällig nach Torcodino verschlagen hatte. So ging ihn zum Beispiel der Inhalt der Geheimpapiere nichts an, die mir im letzten Se’Kara in Brundisium in die Hände gefallen waren und die ich schnell verbrannt hatte. Jene Papiere waren ein eindeutiger Beweis für den Verrat einer Person gewesen, die zur Zeit in Ar eine hohe Stellung bekleidete.
»Ich werde dir nun die Situation erklären, wie sie sich genau verhält«, verkündete Aemilianus. »Fast das ganze Expeditionsheer aus Cos liegt hier vor Ar-Station. Ihm fehlen die Männer, die nötig sind, um in den Süden vorzustoßen. Cos will die Macht über das Voskbecken erringen – im übrigen das einzige, was es sich erhoffen kann. Torcodino ist ein Verbündeter von Ar und niemals gefallen. Es gibt im Süden kein cosisches Invasionsheer. Die Geschichte über Dietrich von Tarnburg ist reine Erfindung. Dieser angebliche Geheimdienstbericht, eine ebenfalls absurde Erfindung, soll uns in die Verzweiflung treiben. Es ist eine List, um uns zur Aufgabe zu bewegen. Glauben die Belagerer wirklich, wir würden uns davon überzeugen lassen, daß uns dieser Bericht gerade jetzt zufällig in die Hände fällt? Glauben sie wirklich, wir nähmen ihn ernst? Er ist nicht einmal verschlüsselt. Die Absurdität dieses Dokumentes, das uns glauben machen soll, Ar stünde mit fast seinem ganzen Heer tatenlos da, während wir angegriffen werden – daß man uns mit anderen Worten im Stich ließe, ist der Beweis, daß sich das Entsatzheer aus Ar in unmittelbarer Nähe befindet, vielleicht nur einen oder zwei Tage entfernt.«
Hinter mir ertönte zustimmendes Gemurmel, das sich in meinen Ohren recht verzweifelt anhörte.
»Ich kenne den Standort von Ars Heer nicht«, sagte ich, »aber ich vermute, er befindet sich genau dort, wo ihn dieser Bericht lokalisiert, der Artemidorus auf den neuesten Stand der Dinge bringen soll. Ich weiß nicht, warum man ihn nicht verschlüsselt hat. Vielleicht ist diese Information kein so großes Geheimnis, zumindest nicht für die Cosianer. Schließlich ist es nicht leicht, den Aufenthaltsort Tausender von Männern vor einem Feind zu verbergen, der über Tarnaufklärer verfügt. Ich sage dir, im Süden gibt es tatsächlich eine cosische Invasionsstreitmacht, gegen die das Belagerungsheer hier vor Ar-Station wie eine Kompanie aussieht. Deine Annahme, die Cosianer könnten eine solche Landstreitmacht nicht aufstellen, beruht auf der Vermutung, daß sie sie aus ihren eigenen Reihen aufstellen. Du mußt aber begreifen, daß die Mehrzahl der Männer, die dir gegenüberstehen, keine Cosianer sind, sondern deren Verbündete und Söldner.«
»Hast du überhaupt eine Vorstellung, was es kosten würde, ein solches Heer aufzustellen?« fragte Aemilianus.
»Ich schätze, Lurius ist bereit, alles Gold von Cos auf einen Sieg zu setzen und seine Investition in der Zukunft tausendfach wettzumachen.«
»Soviel Gold gibt es in ganz Cos und Tyros nicht.«
»Vielleicht kommt es ja nicht nur aus Cos und Tyros«, wandte ich ein.
»Und woher dann?«
»Von Städten, denen an einem cosischen Sieg liegt«, sagte ich, »und aus Ar selbst.«
Ich spürte, wie man mir ein Messer an den Hals setzte, knapp überhalb der Schlinge.
»Du kennst also den Inhalt der Nachricht nicht, die im Briefzylinder war?« fragte Aemilianus.
»Nein.«
»Hast du mit eigenen Augen gesehen, wie der Regent den Zylinder schloß und mit Wachs versiegelte?«
»Nein«, sagte ich. »Ein Untergebener hat ihn mir übergeben, und zwar in dem Zustand, in dem du ihn bekommen hast.«
»Es ist ein kleiner Scherz von seiten des Regenten«, sagte Aemilianus.
»Ein Scherz?«
»Ja. Dein Verrat und deine Hintermänner sind lange vor deinem Eintreffen hier in Ar aufgedeckt worden.«
»Ich verstehe nicht«, sagte ich.
»›Der Überbringer dieses Zylinders, der sich Tarl aus Port Kar nennt, ist ein cosischer Spion‹«, las Aemilianus. »›Verfahr mit ihm, wie Du es für richtig hältst.‹«
»Nein!« rief ich. Ich wollte aufstehen, wurde jedoch erneut mit Gewalt auf die Knie gezwungen. Dort hielt man mich fest. Ein Soldat trat mit dem Fuß auf das Seil, das um meinen Hals hing, und zwang mich, den Kopf gesenkt zu halten. Ich hob ihn, soweit es in meiner Macht stand, um Aemilianus anzusehen.
Grimmiges Gelächter erscholl.
»Hast du wirklich geglaubt wir ergäben uns?« fragte Aemilianus. »Weißt du wirklich nicht, wie erbittert und langwierig diese Belagerung war? Weißt du nicht, wie schrecklich die Kämpfe waren? Oder welch hohe Verluste Cos und wir davongetragen haben? Hast du wirklich geglaubt wir wüßten nicht welches Schicksal uns erwartet, öffneten wir die Tore?«
Man ergriff mich noch fester, das Seil wurde um ein weiteres Stück verkürzt.
»Aber wo ist das Entsatzheer aus Ar?« fragte ein junger Mann. Es war das erste Mal, das er sich zu Wort meldete.
»Ich hoffe, es ist auf dem Weg«, sagte Aemilianus.
»Aber warum ist es noch nicht eingetroffen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Aemilianus.
»Es ist möglich, daß sie zu spät kommen, nicht wahr?«
»Auch das ist möglich.«
»Die Sicherheit der Stadt liegt in deinen Händen, Kommandant«, sagte der junge Mann. »Du bist für die Sicherheit der Bürger verantwortlich. Ich finde, angesichts der jüngsten Ereignisse solltest du über eine Alternative nachdenken.«
»Wer sollte es tun?« fragte Aemilianus.
Ich verstand nicht, wovon sie sprachen.
»Ich werde es tun!« sagte der junge Mann.
»Nein!« rief ein älterer Mann. »Wir wollen eher bis zum letzten Mann sterben, bevor wir zu einer derartigen Handlung Zuflucht suchen!«
»Man würde uns auslachen!« meinte ein anderer.