»Und jetzt erwartest du die Wohltaten, die dir diejenigen erweisen werden, die du verraten hast«, sagte ich.
»Ja.« In ihrem Tonfall lag nackte Angst.
Auf der anderen Seite der Tür gab es ein Geräusch, ein Topf wurde auf dem Steinboden abgesetzt.
»Und wie lautet deine Geschichte?« fragte Claudia.
»Ich bin ein Kurier von Gnieus Lelius, dem Regenten von Ar, den man fälschlicherweise für einen Spion hält«, sagte ich. Ich war davon überzeugt, daß es in Ar Verrat gab, und zwar an hohen Stellen. Entweder hatten sie die Botschaft des Regenten aus dem Briefzylinder entfernt, oder diese Botschaft hatte sich niemals darin befunden. Es bestand kein Zweifel, daß die Botschaft oder sogar der Zylinder vertauscht worden waren. Natürlich war ich nicht zugegen gewesen, als der Regent seinen Brief in den Zylinder gesteckt und ihn versiegelt hatte. Daran war nichts Ungewöhnliches, denn es ist nicht üblich, daß der Kurier dabei anwesend ist. Kuriere sind nur selten in die Staatsangelegenheiten eingeweiht. Normalerweise bringt ihnen ein Untergebener den versiegelten Brief oder den verschlossenen Zylinder und sie machen sich auf den Weg.
»Nein«, sagte Claudia. »Du lügst! Du versuchst nur, dich zu retten! Du bist auch ein Spion!«
»Vielleicht.«
Die Klappe in der Tür öffnete sich. Lady Claudia eilte schnell nach vorn und kniete ein paar Schritte vor der Tür nieder, zwar immer noch ein gutes Stück von der Tür entfernt, aber nahe genug, damit man sie gut durch die Öffnung sehen konnte. »Knie dich neben mich«, flüsterte sie angespannt. »Wir bekommen nur einmal am Tag etwas zu essen! «Ich konnte niemanden in der Öffnung sehen. Ich blieb sitzen.
»Knie dich neben mich!« flehte Claudia mich an.
Vor der Tür wurde etwas über den Boden geschoben, vermutlich die Beine eines Hockers oder einer Trittleiter. Einen Augenblick später kam ein kleiner Kopf in Sicht, der entweder einer Frau oder einem Kind gehörte. Ich konnte nur wenig erkennen, aber es schien ein zierlicher Kopf zu sein; er wurde von einem enganliegenden Turban verhüllt; die untere Gesichtshälfte lag hinter einem Schleier verborgen. Ein Stück oberhalb des vom Schleier verhüllten zierlichen Nasenrückens blickten dunkle Augen.
»Wie ich sehe, wirst du von jetzt an nicht mehr so einsam sein, Lady Claudia«, sagte die Frau hinter der Tür belustigt.
»Ruhm und Ehre für Ar!« rief Claudia verängstigt. Sie wandte sich mir zu. »Knie dich neben mich!« flehte sie mich an. »Oder wir bekommen nichts zu essen.«
Ich tat ihr den Gefallen, und die Frau hinter der Tür lachte. Dann fauchte sie: »Spione!« Ich würde es nicht schaffen, die Hand durch die Klappe zu schieben; sie war zu eng. Die Wärterin sagte: »Ruhm und Ehre für Ar!«
»Ruhm und Ehre für Ar! Ruhm und Ehre für Ar! Ruhm und Ehre für Ar!« rief Lady Claudia. Sie sah mich verzweifelt an. Ich hatte geschwiegen. »Bitte!«
Ich sagte dreimaclass="underline" »Ruhm und Ehre für Ar!«
Die Frau hinter der Tür lachte.
Ich wünschte, es hätte eine Möglichkeit gegeben, sie in meine Hände zu bekommen. Der verhüllte kleine Kopf verschwand, und kurze Zeit später öffnete sich die untere Klappe. Ein niedriger Behälter mit Wasser wurde hindurchgeschoben. Lady Claudia nahm ihn und entleerte ihn in eine schmale Zisterne an der Zellenwand. Sie schob ihn zurück und nahm ihre vorherige Position wieder ein. Es sah nicht so aus, als könnte ich die Hand durch die schmale Klappe schieben, um ein Handgelenk oder einen Fuß zu packen. Trotzdem war es vernünftig, diese Idee zu durchdenken. Ein Wärter, der von Natur aus größer war, konnte durch die Beobachtungsklappe schauen und sich vergewissern, ob wir an der richtigen Stelle knieten, gleichzeitig konnte er mit dem Fuß den Wasserbehälter oder einen Topf durch die untere Klappe schieben. Die Frau war dafür nicht groß genug.
Ihr Kopf erschien wieder in der Sichtöffnung. »Den Topf«, befahl sie.
Sofort holte Lady Claudia einen schmalen Topf und stellte ihn anderthalb Meter vor der Tür auf dem Boden ab. Ich entnahm der Prozedur, daß man ihr genau beigebracht hatte, wie sie sich bei der Essensausgabe zu verhalten hatte. Den Topf hinzustellen, bevor man den Befehl dazu erhielt, würde vermutlich als vermessen betrachtet, was wiederum dazu führte, daß man an diesem Tag leer ausging.
»Du bietest nackt einen hübschen Anblick, Lady Claudia«, sagte die Wärterin.
Claudia unterdrückte ein Aufschluchzen.
»Ruhm und Ehre für Ar!« sagte die Gefangenenwärterin streng.
»Ruhm und Ehre für Ar!« rief Claudia dreimal. Ich schloß mich ihr an.
Der Kopf verschwand. Wieder ertönte das schabende Geräusch, wie von Holz auf Stein, bestimmt brauchte die Wärterin einen Hocker. Das Geräusch verstummte, es wurde still. Zu Claudias Entsetzen eilte ich zu der Beobachtungsklappe und sah hindurch. Die Wärterin ging den Korridor entlang. Sie war barfuß, und ihre Kleidung bestand fast nur noch aus Lumpen; allem Anschein nach handelte es sich um ein Kleid, das man gekürzt hatte. Ihre Waden waren deutlich zu sehen. Die Säume sowohl des Unterrocks als auch des darüber befindlichen Rockes waren gezackt, die tiefen Einschnitte, die zweifellos beim Kürzen entstanden waren, bildeten sieben oder acht dreieckige lange Stoffbahnen. Sie waren so angebracht, daß sich der Stoff des Unterrocks stets mit dem des Rocks abwechselte. Obwohl das Kleid auf den ersten Blick behelfsmäßig und zerlumpt aussah, steckte doch eine Absicht dahinter. Ich fragte mich, ob ihr klar war, wie aufreizend diese Aufmachung letztlich war. Sie erweckte in einem Mann den Wunsch, sie sofort auszuziehen. Der Schleier gehörte natürlich zu einer freien Frau. Doch ich war davon überzeugt, daß sie sich am Ende, wenn die Stadt gestürmt wurde, sofort unterwarf und diese Farce beendete. Sie bückte sich und hob einen Eimer hoch, und bevor sie sich umdrehte, war ich an meinen Platz zurückgekehrt.
»Verlaß bei der Essensausgabe nie deinen Platz«, bettelte Lady Claudia mit Tränen in den Augen.
Das verhüllte Gesicht erschien wieder in der Türöffnung und fand uns am richtigen Platz vor. Sobald es verschwand, bückte ich mich, um zu sehen, ob es irgendwie möglich war, die Wärterin durch die untere Klappe zu packen. Aber zu meinem Unmut wurde ein flacher Topf, in dem sich etwas Eintopf und ein Stück Brot befanden, mit Hilfe eines langen Stabes durch die Klappe in die Zelle geschoben. Lady Claudia eilte zu dem Topf, füllte den Inhalt in den Zellentopf um und stellte ihn wieder vor der Tür ab. Er wurde mit der Stange zurückgeholt. In Anbetracht der Tatsache, daß es sich hier um eine Wärterin handelte, mußte man zugeben, daß man sie gut auf ihre Arbeit vorbereitet hatte. Zweifellos befanden sich hier irgendwo auch ein paar Männer, um sie notfalls zu unterstützen. Ich war wütend. Ich stand rechtzeitig auf, um sie besser sehen zu können, wenn sie durch die obere Klappe blickte. Der Gebrauch zweier Töpfe dient weniger der Sicherheit (man könnte die Töpfe auch einfach austauschen, vorausgesetzt, der nötige Abstand zwischen Gefangenen und Wärter bleibt bestehen); damit soll vielmehr gesichert werden, daß der Topf in der Zelle bleibt. Das hilft, die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern, und sorgt dafür, daß die Gefangenen für die hygienischen Verhältnisse verantwortlich sind.