»Bitte gib uns mehr zu essen!« rief Claudia.
»Du bist ohnehin schon zu fett!« lautete die Antwort.
»Bitte!«
Meiner Meinung nach war Lady Claudia keineswegs fett. Andererseits hatte sie besseres Essen als die Bewohner von Ar-Station gehabt, zumindest bis zu ihrer Verhaftung. Schließlich hatte sie Lebensmittel gehortet und sich an der Mauer zusätzliche Vorräte besorgt.
»Hast du Angst, deine Haut könnte darunter leiden?« fragte die Wärterin.
»Bitte!« sagte Claudia. »Bitte!«
Die Klappen wurden geschlossen.
»Dieses Sleen-Weibchen!« rief Claudia. »Wie ich sie hasse!« Sie ballte die Fäuste. »Ich hasse sie! Ich hasse sie!« Sie trommelte mit den Fäusten auf den Boden; die Schläge wurden von dem Stroh gedämpft. Dann starrte sie enttäuscht auf den Eintopf und das Brot. »Sie wollen, daß ich verhungere.«
»Meinst du nicht uns?« fragte ich.
»Ja, natürlich«, erwiderte sie hastig.
»Du bekommst vermutlich genausoviel wie alle Bürger Ar-Stations«, sagte ich. Die Männer auf der Stadtmauer bekamen hoffentlich mehr. Allerdings hatten jene, die ich kennengelernt hatte, halb verhungert ausgesehen.
Claudia stand auf und wollte zu dem Topf gehen. Plötzlich blieb sie stehen. Ich hatte ihren Fußknöchel gepackt. Sie sah mich an. Ich schüttelte den Kopf und zeigte auf den Boden.
Sie wurde ganz blaß.
Dann schluchzte sie auf, kniete nieder und legte den Kopf zwischen die Hände. Die Gefängniswärter hatten ihr schon viel beigebracht.
Ich ging zu ihr.
13
Chloe lag neben meinem Oberschenkel. Sie blickte zu mir auf. »Du hast aus mir eine Frau gemacht«, sagte sie. »Es war dein Wille, und du hast ihn durchgesetzt. Jetzt kann ich nie wieder etwas anderes sein, und ich will es auch gar nicht.«
»Küß mich«, sagte ich.
Sie gehorchte und küßte mich zärtlich, wie es sich für eine Sklavin gehörte.
Ich hatte ihr den Namen ›Chloe‹ verliehen. Technisch gesehen war sie noch immer die Lady Claudia aus Ar-Station. Doch wegen ihres Verrats hatte ich ihr einen cosischen Namen verliehen. Es war ein schöner Name. Er gefiel ihr, und sie reagierte gut darauf, in psychologischer, gesellschaftlicher und sexueller Hinsicht. Vor allen Dingen verstand sie, wie richtig es gewesen war, daß ich ihr einen neuen Namen verliehen hatte.
Die Mauern von Ar-Station waren vor fünf Tagen gefallen. Die Cosianer befanden sich nun in der Stadt. Die Verteidiger, die um jede Straße und jedes Haus gekämpft hatten, hatten sich in die Zitadelle zurückgezogen; sie hatten von ihren Besitztümern und ihren Vorräten mitgebracht, was sie hatten retten können. Neben den Soldaten befanden sich Hunderte von Frauen und Kindern in der Zitadelle, die unter dem Hunger litten. Ar-Station stand in Flammen. Der Qualm drang bis in unsere Zelle.
»Was war das?« rief Chloe und sprang auf.
Ich sprang ebenfalls auf.
Irgendwo außerhalb der Zitadelle war lautes Getöse zu hören.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte ich.
Im Verlauf des Nachmittages hörten wir das Geräusch noch öfter, immer auf der Landseite der Zitadelle.
»Da war es wieder«, sagte Chloe gegen Sonnenuntergang.
»Es sind die Cosianer«, sagte ich. »Sie zerstören die Häuser rings um die Zitadelle, damit sie ihre Belagerungsmaschinen in Stellung bringen können.«
Dann hörten wir den langen, verzweifelten Schrei einer Frau, irgendwo von außerhalb der Zitadelle.
Chloe sah mich an.
»Man hat sie gefangengenommen«, sagte ich.
»Auch ich wurde gefangengenommen«, antwortete Chloe. »Und du hast mich später noch einmal gefangengenommen. Doch das macht mir nichts mehr aus. Ich bin sogar froh, daß du mich gefangengenommen hast.«
Ich küßte sie. Sie schmiegte sich in meine Arme. »In der Zitadelle kann doch kaum Platz sein«, sagte sie.
»Unsere Zelle gehört zweifellos zu den Luxusquartieren«, stimmte ich ihr zu.
»Warum kettet man uns nicht draußen an einen Pfahl?«
»Vielleicht, damit uns die Leute nicht in Stücke reißen.«
Sie erschauderte. Die fest verriegelte Zellentür schien uns nun eher zu beschützen als einzusperren. Nur wenige Leute wußten von unserer Existenz. Hätten sie davon erfahren, hätten sie vielleicht die Tür aufzubrechen versucht.
»Die Cosianer dürfen ihre Katapulte nicht benutzen, nicht bei dieser geringen Entfernung«, erklärte Chloe.
»Warum nicht?«
»Die Menschen«, sagte sie. »Die Zitadelle ist überfüllt. Es wäre schrecklich. Das werden sie doch nicht tun.«
»Ich nehme an, die Belagerungsmaschinen sind morgen früh an Ort und Stelle«, sagte ich. »Sie werden alles einsetzen, Steine, siedendes Öl, Speere.«
»In der Zitadelle kann es kaum noch etwas zu essen geben«, sagte sie.
Unsere ohnehin schon mageren Rationen waren noch einmal halbiert worden. Wir waren beide ziemlich schwach.
»Warum machen sie sich überhaupt noch die Mühe, uns etwas zu essen zu geben?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich. Doch ich konnte mir denken, warum sie zumindest Chloe nicht verhungern ließen. Doch ich wollte es ihr nicht sagen.
Die Beobachtungsklappe wurde geöffnet. Das verhüllte Gesicht unserer Wärterin erschien, als sie auf ihren Hocker stieg. »Gefangene, tretet vor!« befahl sie. »Kniet nieder!«
Wir gehorchten. Es war kurz vor Sonnenuntergang. Keine Essenszeit.
»Du, Claudia, Sklavin«, sagte die Wärterin. »Knie dich hinter ihm hin, zu seiner Linken.« Eine Sklavin folgt ihrem Herren immer auf der linken Seite. Damit zeigt sie ihre Unterwerfung; dieser Brauch ist vermutlich durch die Tatsache entstanden, daß die meisten Goreaner Rechtshänder sind; steht die Frau links von ihm, kann sie seinen Schwertarm nicht behindern.
»Du bist eine hübsche Sklavin, Lady Claudia«, knurrte die Wärterin.
»Ja!« erwiderte Claudia. »Ich bin eine Sklavin! Er hat mir gezeigt, daß ich eine echte Sklavin bin! Ich weiß es jetzt!«
»Sklavin!« fauchte die Wärterin. Ich konnte ihren Haß auf Lady Claudia nicht verstehen. Er ließ sich von der Logik her längst nicht mehr durch ihre Taten erklären. »Schlampe!« brüllte die Wärterin sie an. Ihre Feindseligkeit war eindeutig auf Claudia gemünzt, nicht auf mich. Anscheinend konnte sie nicht ertragen, daß Claudia – meine Chloe – trotz ihrer Lage zu einer wahren Schönheit erblüht war. Sie hatte nichts mehr mit ihrem früheren Ich gemein. Ihr wäre nicht einmal mehr im Traum eingefallen, Ar-Station oder seine Männer zu verraten. Doch das spielte keine Rolle, man würde sie für ihre Verbrechen zur Verantwortung ziehen, ob sie sich gewandelt hatte oder nicht.
»Ja«, erwiderte Claudia leise und demütig, um dann bedeutsam und mit einem Hauch Bösartigkeit hinzuzufügen: »Herrin!«
Die Wärterin schrie ihre Wut heraus und trommelte mit den kleinen Fäusten gegen die Zellentür.
»Warum störst du uns?« fragte ich sie.
»Mit dir rede ich nicht«, antwortete sie.
»Aber ich rede mit dir, Frau!«
Ihr Kopf ruckte wütend herum. Ich wünschte mir, ich hätte durch die Öffnung greifen und ihr den Schleier vom Gesicht reißen können. Ob sie wohl gut aussah?
»Glaub ja nicht, du könntest deiner gerechten Strafe entgehen, indem du vorgibst, eine Sklavin zu sein!« fuhr die Wärterin Lady Claudia an.
»Keine Angst, meine Liebe«, antwortete Claudia. »Ich weiß, daß ich nach dem Gesetz noch immer eine freie Frau bin. Ich mag in meinem Herzen eine Sklavin sein und in dieser Zelle auch wie eine Sklavin dienen, aber ich weiß, daß ich rechtlich noch immer frei bin.«
»Glaubst du, daß die Zitadelle morgen oder übermorgen fällt?« fragte ich. »Und trägst du noch immer dieses prächtig zurechtgemachte Lumpengewand und gehst barfuß mit entblößten Waden und Fesseln?«
Ihre Augen wurden groß. Sie begriff, daß ich ihr durch die Öffnung nachspioniert hatte. Ich kannte ihre kleinen Geheimnisse, deren Bedeutung jedem starken Mann klar sein mußte. Sie runzelte wütend die Stirn.