Ich stolperte über die Trümmer bis zu dem großen Loch in der Wand.
Vor mir breitete sich die geballte Streitmacht von Cos im Norden aus, in der hellen Morgensonne funkelten Speerspitzen und Schilde und die Flaggen von Kompanien und Regimentern, während am strahlendblauen Himmel Tarnsmänner flogen. Die enggeschlossenen Reihen erstreckten sich bis zu den letzten noch stehenden Gebäuden und drängten sich in den weitentfernt liegenden Straßen, doch in der Hauptsache standen sie auf einer künstlichen, dreihundert Meter langen Ebene versammelt, die man aus den geschleiften Ruinen der niedergebrannten Gebäude geschaffen hatte, deren Trümmer dazu benutzt worden waren, die Keller und Erdgeschosse auszufüllen.
Ich winkte Lady Claudia heran, damit wir uns die Pracht des Krieges zusammen ansehen konnten.
»Siehst du das, kannst du verstehen, warum Männer so etwas lieben können?«
Sie stöhnte auf. »Es macht mir angst!«
»Sieh sie an, die Soldaten, ihre Pracht, ihre Macht!«
»Nein«, schluchzte sie, und der Wind drückte den Schleier gegen ihre Lippen.
»Ein großartiger Anblick!« rief ich.
Sie schüttelte nur verängstigt den Kopf. Hätte ich sie nicht beim Arm gegriffen, wäre sie vermutlich ohnmächtig zusammengesunken.
Fanfaren ertönten aus allen Richtungen.
»Die Männer bewegen sich«, flüsterte Claudia.
»Das ist der Angriff.«
»Sie schweigen!« Bis jetzt war den Fanfaren stets gewaltiger Jubel gefolgt.
»Sie haben genug gebrüllt«, sagte ich. »Jetzt kommen sie, um die Sache zu Ende zu bringen.«
Mit leichten Waffen ausgestattete Regimenter eilten nach vorn, die Bogenschützen, Schleuderer und Speerwerfer sollten die Verteidiger von den Zinnen fernhalten. Unter ihrem Schutz folgten die Leiterbrigaden und die Wurfhakenmänner, dahinter kamen die Kletterer zusammengeduckt unter den Schilddächern der Infanteristen heran.
»Die Mauer wird an mehreren Stellen angegriffen«, erklärte ich, »damit sich die Verteidiger verteilen.«
Plötzlich stöhnte Claudia entsetzt auf.
»Was ist?«
»Ich glaubte, ich hätte ein Haus gesehen, das sich bewegt«, sagte sie. »Dort hinten, bei den anderen Häusern.«
»Wo?«
»Es spielt keine Rolle, es war nur eine Illusion, eine Luftspiegelung, Hitze, die von den Steinen aufsteigt.«
»Wo?« wiederholte ich meine Frage.
Sie zeigte in die Richtung, dann stöhnte sie erneut auf.
»Es ist keine Illusion. Es bewegt sich. Da ist noch eins, und dort hinten.«
»Häuser können sich nicht bewegen!« sagte sie.
»Ich zähle elf Stück«, sagte ich. »Sie können auf verschiedene Weise bewegt werden; manche von innen heraus. Dort stemmen sich Männer gegen Balken, oder Tharlarion ziehen sie, die hinter solchen Balken angeschirrt sind. Andere werden mit Seilen von Männern oder Tharlarion gezogen. Sieh dort, da ist eins! Es wird von Männern gezogen. Siehst du es?«
Sie nickte.
Es waren mindestens fünfzig Seile, und an jedem Seil standen fünfzig Männer. Doch auf diese Entfernung wirkten sie trotz ihrer Anzahl winzig.
»Trotzdem, wie kann man solche Gebäude nur bewegen?«
»Das sind keine richtigen Gebäude aus Stein und Lehm«, erklärte ich ihr. »Es handelt sich um Belagerungstürme, hohe, bewegliche Konstruktionen auf Rädern. Sie sind schwer, das ist richtig, aber in Anbetracht ihrer Größe sind sie verhältnismäßig leicht. Sie bestehen aus einem Gerüst, das von drei Seiten mit Holzplatten oder auch mit Häuten verkleidet ist. Wenn sie näher kommen, wird man die Häute mit Wasser tränken, damit man sie nicht so leicht in Brand stecken kann. Die Belagerungstürme überragen die Mauern, oben sind Zugbrücken eingebaut, die man hinunterläßt, wobei es von Vorteil ist, wenn sie abschüssig sind, das verleiht dem Angriff mehr Wucht. Über diese Zugbrücken stürmen die ersten Soldaten die Wehrgänge, während andere die im Innern des Turms angebrachten Leitern erklimmen und ihnen folgen. Von diesen Belagerungstürmen gibt es viele verschiedene Arten. Manche werden sogar auf Schiffen eingesetzt.«
»Sie sind schrecklich«, sagte Claudia.
»Jeder Turm kann innerhalb von zehn Ehn eintausend Mann in eine Stadt strömen lassen.«
»Sie sind wie Riesen.«
»In der Tat machen sie einen bedrohlichen Eindruck«, gab ich ihr recht.
Wir blieben noch einen Augenblick lang in dem Loch in der Wand stehen. Dann sagte ich plötzlich: »Komm!« Und ich zog sie über das Geröll zurück in die Zelle. Ich nahm dem Henker die Maske ab und zog sie mir über den Kopf. Dann trat ich zu Lady Publia, die voller Staub in den Trümmern lag. Ich stieß sie mit dem Fuß an, doch sie rührte sich nicht. Ich glaubte nicht, daß sie tot war, denn von uns allen hatte sie sich an der sichersten Stelle aufgehalten, als die Wand durchschlagen worden war. Weder auf dem Seil noch auf der Haube war Blut zu sehen. Wahrscheinlich war sie nicht einmal bewußtlos, sondern hoffte verzweifelt, daß man sie vergessen hatte. Ich nahm sie bei der Taille und warf sie mir über die linke Schulter. So hat man den Schwertarm frei. Sie stöhnte mitleiderregend. Bestimmt glaubte sie sich auf der Schulter des Henkers. Ich trug sie aus der Zelle. Lady Claudia folgte mir.
16
»Wo bleibst du?« rief der Mann, der uns im Korridor entgegenkam. »Sie kommen! In einer Ehn steht der Rammbock wieder vor dem Tor!«
Ich hob die rechte Hand und gab ihm zu verstehen, daß ich seine Worte verstanden hatte. Wir hatten den Rammbock von der Zelle aus nicht sehen können, vermutlich hatte die Westecke des Haupttores den Blick versperrt. Der Mann drehte sich um, und ich folgte ihm. Vermutlich ging es zur vorderen Brustwehr.
Lady Publia wand sich wie wild auf meiner Schulter, in dem Glauben, daß dies die letzte Gelegenheit sei, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ihre Bemühungen waren nicht vergeblich, sie ernteten höhnische und spöttische Bemerkungen, die sie selbst verhüllt gut hören konnte. Mehrere Frauen und Männer, an denen wir auf unserem Weg vorbeikamen, schlugen haßerfüllt nach ihr, wobei sie jedesmal zusammenzuckte. Zweifellos wäre sie grün und blau geschlagen, sobald wir die Mauer erreicht hatten. Lady Claudia folgte uns verängstigt und eingeschüchtert. Ich hatte den Eindruck, als schriee sie jedesmal leise auf, wenn die Schläge meine hilflose, weiche Last trafen, so als müßte sie diejenige sein, die sie zu erdulden hätte. Manchmal schluchzte sie sogar auf. Falls Publia diese Laute hörte und sie mit Lady Claudia in Verbindung brachte, nahm sie bestimmt an, Claudia begleite den Henker zur Mauer, so wie sie es zweifellos an ihrer Stelle getan hatte. Als Wärterin hatte sie uns grausam behandelt und Lady Claudia bei jeder sich bietenden Gelegenheit erniedrigt. Nun war sie es, die zu ihrem Entsetzen zur Mauer gebracht wurde.
Nachdem wir eine spiralenförmige hohe Treppe hinaufgestiegen waren, gelangten wir in ein Wachhaus, durch das wir die Mauer betraten. Hier war es hell und windig. Lady Publia, die die kühle Luft spürte, stieß ein langes hilfloses Stöhnen aus.
»Da«, sagte der Soldat, dem wir gefolgt waren. Er zeigte auf die Brustwehr über dem Tor zur Zitadelle, die höher war als ihre Gegenstücke auf der Mauer. Auf der zinnengeschützten Plattform reckte sich der lange polierte Pfahl in die Höhe. Der Soldat verließ uns.