Ich warf einen Blick über die Mauer und sah, daß der fahrbare Unterstand, unter dessen Dach der Rammbock an seinen Seilen hing, bereits ziemlich nahe heran war. Meine Vermutung, daß er von der vorstehenden Westecke des Tores verdeckt worden war und man ihn in der Zelle deshalb nicht hatte sehen können, bestätigte sich. Einige der Leiterträger und der Hakenwerfer standen bereits am Fuß der Mauer. Die Belagerungstürme waren noch ein paar hundert Meter entfernt.
Ein Armbrustbolzen traf die Innenseite einer Zinne, schlug eine Kerbe in den Stein und flog abgelenkt in die Höhe.
Als ich auf das Tor zuging, flog ein Wurfhaken anmutig über die Mauer und fiel über den Wehrgang hinaus. Aus dem Bogen, den er beschrieben hatte, und der Höhe, aus der er gekommen war, schloß ich, daß ihn ein Katapult abgeschossen hatte. Er wurde zurückgezogen, eine der gekrümmten Spitzen verhakte sich an der Wehrgangkante, das daran befestigte Seil wurde straffgezogen. Normalerweise taugen bei dieser Art von Kampf solche Wurfhaken nicht viel, es sei denn, man benutzt sie des Nachts, wenn sie nicht gesehen werden, oder es gibt zu viele von ihnen, als daß man ihrer Herr werden kann. Meiner Meinung nach sind sie auf See viel nützlicher, um Schiffe auf Enterdistanz aneinander heranzuziehen, wobei die Haken an drei Meter langen Ketten hängen, die wiederum mit Seilen verbunden sind. Das erschwert es, sie zu durchtrennen. Wenn man nahe genug ist benutzt man für solche Zwecke auch andere, kleinere Enterhaken. Hinter der Spitze sind diese Enterhaken mit Blech ummantelt, was ebenfalls das Durchtrennen erschweren soll. Übrigens werden die oberen Enden der Piken, mit denen die Enterer abgewehrt werden sollen, mit Schmiere bestrichen, damit der Feind sie den Verteidigern nicht so ohne weiteres aus den Händen reißen und so Lücken in den Pikenwall reißen kann.
Ich behielt das an dem Haken befestigte Seil einen Augenblick lang im Auge und bemerkte, daß es zwar straff gespannt war, aber nicht den unverkennbaren Zug aufwies, der zu sehen gewesen wäre, wenn jemand daran in die Höhe geklettert wäre. Ich machte den Haken los und ließ ihn zurück über den Wehrgang und die Zinnen fliegen, wobei ich die Spannung des Seils die Arbeit erledigen ließ. Hätte ich mehr Zeit gehabt oder zu den Verteidigern von Ar-Station gehört, hätte ich vielleicht gewartet, bis jemand in die Höhe geklettert wäre und das Seil dann gekappt. Für denjenigen, der die Mauer hochklettert, kann das sehr unerfreulich sein, vor allem wenn er sich in diesem Augenblick zwanzig oder mehr Meter über dem Boden befindet. Man braucht viel Mut, um im hellen Tageslicht mitten im Kampf ein solches Seil zu erklimmen. Ich hatte keinen Zweifel, daß es jetzt auf der anderen Seite der Mauer einen oder zwei Burschen gab, die erleichtert waren, daß der Haken zurückkam. Natürlich braucht es genausoviel Mut, eine Belagerungsleiter hochzusteigen – obwohl das natürlich viel einfacher ist –, vor allem dann, wenn die Mauer heftig verteidigt wird. Bei Mauern, die höher als sechs Meter sind, hat der Angreifer größere Erfolgsaussichten, wenn er versucht, über die Zugbrücke eines Belagerungsturms in die Stadt einzudringen – oder noch besser durch das gestürmte Tor oder eine Lücke in der Mauer.
Ich warf einen Blick zwischen zwei Zinnen hindurch.
Die Belagerungstürme waren noch immer mindestens zweihundert Meter weit entfernt. Man braucht Zeit, um solch unhandliches Gerät zu bewegen. Das Vorankommen der Türme war so langsam, daß sich der Eindruck aufdrängte, man beobachte die Bewegung von Uhrzeigern.
Ich ging an einem jungen Burschen vorüber, der mit einer Armbrust hinter einer Schießscharte stand. Er war zu jung, um auf der Mauer zu stehen. In die Bolzenrinne war ein Geschoß eingelegt. Neben ihm an der Brüstung lehnten weitere Armbrustbolzen, von denen aber nur zwei befiedert waren, der eine mit echten Federn, der andere mit Metallflossen. Der Rest bestand aus zugespitzten Holzstäben; ich entdeckte sogar ein paar stumpfe Holzbolzen, wie sie von Jungen fürs Vögelschießen benutzt werden. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie etwas ausrichten würden. Bestenfalls würden sie, aus einer Entfernung von einem Meter abgeschossen, einen Angreifer vielleicht von der Leiter stoßen, aber vermutlich waren sie nur lästig.
Der Geruch kochenden Öls trieb über die Brustwehr, und ich ging an dem Kessel vorbei. Man nahm an langen Stäben befestigte Eimer, tauchte sie in den Kessel, zündete das geschöpfte Öl an und goß es auf die Angreifer. Ich passierte zwei Katapulte, Sie standen nutzlos da; sie waren nicht einmal bemannt.
Ich ging weiter zu der hohen Plattform über dem Tor, wo der Pfahl, der in der Sonne wie eine polierte Nadel funkelte, in seiner Halterung steckte. Ich kam an einem weiteren Burschen vorbei, der meiner Meinung nach ebenfalls viel zu jung war, um an den Zinnen zu stehen. In ihrem Alter hätten sie sich an den windigen Ecken der Märkte herumdrücken sollen, in der Hoffnung, daß der Wind den Schleier einer freien Frau lüpfte. Oder sie hätten hinter den Ständen ›Stein oder Ring‹ spielen sollen. Er duckte sich hinter einem Steinhaufen. Es ist schwer, Steine zielgerecht zu werfen, ohne dabei auf den Zinnen zu stehen. Natürlich steht der Werfer in diesem Fall deckungslos da. Der Junge schien in Gedanken versunken zu sein. Ich fragte mich, ob er vorher je auf der Mauer gestanden hatte. Vermutlich hatte er eine Mutter, die ihn liebte.
Als ich an ihm vorbeiging, sah er zu mir auf. Da erkannte ich, daß er nicht das erste Mal auf der Mauer stand und daß es sich bei ihm, auch wenn er dem Alter nach ein Junge war, um einen Mann handelte. Er senkte den Kopf und gab sich wieder seinen Gedanken hin, wie auch immer sie aussahen. Vor der Treppe zur Plattform gabelte sich der Wehrgang und führte um sie herum. Dort standen zwei Soldaten mit langschäftigen Dreizacken. Mit ihnen stößt man Sturmleitern zurück.
Ich drehte mich um und sah, wie etwa fünfzig Meter hinter mir eine Leiter über den Zinnenrand geschoben wurde. Die beiden abgemagerten und müden Soldaten schenkten ihr keinerlei Beachtung. Ein paar Männer stürmten bereits heran. Klingen trafen aufeinander. Mehr als ein Angreifer sprang auf den Wehrgang, die Leiter wurde umgestoßen. Plötzlich waren die Cosianer von ihren Leuten abgeschnitten. Männer warfen sich ihnen entgegen. Zwei wurden niedergemacht, der dritte kletterte über die Brustwehr und sprang in die Tiefe; er zog die möglichen Konsequenzen eines solchen Sturzes dem sicheren Tod auf dem Wehrgang vor. Man nahm seinen toten, verstümmelten Kameraden die Waffen ab und warf ihm die Leichen hinterher.
Ich eilte die breiten Steinstufen zur Plattform hoch. Sie war menschenleer, zumindest im Augenblick, vielleicht wegen ihrer Höhe und ihrer Position genau über dem Tor, gegen das in absehbarer Zeit der Rammbock anstürmen würde. Es wäre der ideale Kommandoposten für Aemilianus gewesen, aber er hielt sich vermutlich unten in der Nähe des Tores auf. Vielleicht glaubte er – möglicherweise sogar zu Recht –, daß dort die größte Gefahr drohte. Vermutlich hatte man hinter dem Tor mittlerweile Tonnen von Gestein aufgeschüttet. Trotzdem würde man sich mit der Ramme aller Voraussicht nach dort Einlaß zu verschaffen suchen; sie würde die in die dicken Holzbohlen des Tores eingelassenen Messingbeschläge durchschlagen, die verriegelnden Balken entzweibrechen und schließlich Schlag für Schlag die aufgeschichteten Felsbrocken zurückzwingen.
Ich legte Lady Publia auf dem Boden ab, neben der Pfahlhalterung.
Dann verbannte ich sie einen Augenblick lang aus den Gedanken.
Ich betrachtete die näher kommenden Belagerungstürme, die unzähligen Soldaten, die Leitern, die man herantrug, die Katapulte. Dann betrachtete ich die Mauer. Sie war mit zu wenigen Männern besetzt. Der Ausgang der Schlacht stand von vornherein fest. Die Cosianer hatten lange auf diesen Tag gewartet.
Zur Linken flatterte eine zerrissene Flagge trotzig im Wind; auf rotem Hintergrund prunkte in Gelb der Buchstabe ›Ar‹, darunter schlängelte sich eine gelbe Linie. Es war die Flagge von Ar-Station, die von Ars Macht am Vosk kündete. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie dort noch lange flatterte.