Die Verteidiger der Mauer, die nun von unten herbeieilenden Kameraden verstärkt wurden, bereiteten sich auf den Angriff vor. Vor jedem Turm fanden sich Gruppen zusammen. Andere verteilten sich den Wehrgang entlang, um gegen die Sturmleitern und ihre Mannschaften anzutreten. Waffen wurden blankgezogen, Dreizacke angehoben. Der Inhalt der Öleimer an den langen Stangen wurde entzündet.
Ich hatte damit gerechnet, daß Aemilianus, der Kommandant der Zitadelle, sich auf die Mauer begäbe, konnte aber den Helm mit dem Kamm aus Sleenhaar nirgends entdecken.
Mir kam der Gedanke, daß ich hier eigentlich nichts zu suchen hatte. Das war nicht mein Kampf. Meine Liebe gehörte weder Cos noch Ar.
Jeden Augenblick würden die Fanfaren ertönen.
Der Himmel war ganz still, der bevorstehende Kampf bekümmerte ihn nicht. Die Wolken kümmerte das Blut nicht, das in ihrem Schatten vergossen würde. Was hier geschah, war im Angesicht des Universums völlig unbedeutend. Im Vergleich mit dem Untergang und der Geburt ganzer Welten und dem Inferno innerhalb der weißglühenden Sterne erschienen die Händel dieses Nachmittags nichtig. Und doch pulsierten hier Gefühle und Gedanken – sonst kaum mehr als ein winziges und zerbrechliches Flackern in der Dunkelheit –, die in diesem Augenblick mit einer Kraft aufloderten, deren Berechnung keinem Physiker möglich gewesen wäre und die auf ihre ureigene Weise den gefühllosen Gleichmut des Alls in den Schatten stellten und verspotteten. Sollte das Auge, das die ehrfurchtgebietende Gewalt des Universums sieht, sich nicht genausogut der Ehrfurcht bewußt werden, die das eigene Sehen gebietet?
Wo war Aemilianus?
Es war nicht mein Kampf. Ich hätte die Mauer verlassen sollen. Sicher hätte sich irgendwo in der Zitadelle andere Kleidung finden lassen. Mein Akzent unterschied sich deutlich von dem nasalen Akzent Ars oder dem ihm so ähnlichen Akzent Ar-Stations. Es hätte keine Schwierigkeit bedeutet, sich unter die eindringenden Sieger zu mischen.
Es war nicht mein Kampf.
Wo war Aemilianus?
Wie mutlos die Verteidiger erschienen! Wie lustlos sie dastanden! Wie ergeben in ihr Schicksal! Wo waren die Vorbereitungen, die sie für die Abwehr der Belagerungstürme trafen? Glaubten sie, sie stünden nur den Männern auf den Leitern gegenüber, dem kletternden, an den Seilen klebenden, in die Höhe strömenden, brüllenden, mit Speeren und Klingen zustechenden Schwarm, den sie aus Hunderten von Angriffen in der Vergangenheit kannten? Man würde sie beiseite fegen, wie ein Torvaldslander Sturm vertrocknete Blätter beiseite fegt.
»He, ihr Narren!« rief ich und marschierte den Wehrgang entlang. »Die Zugbrücken werden niederkrachen, und ihr werdet glauben, eine Eisenlawine sei auf euch herabgeprasselt! Wie wollt ihr euch dagegen wehren? Wollt ihr sie auf eure Köpfe niedergehen lassen? Eine kluge Taktik! Holt Pfähle! Holt Steine! Du da, hol Wurfhaken und Seile! Die Besatzung an die Katapulte, sofort! Ihr Männer da, ihr seht doch, wo der Turm ankommen wird, dort an der Treppe. Brecht den Stein heraus! Macht eine große Lücke! Du da, hol Tarndraht!«
»Wer bist du?« rief ein Mann.
»Ich bin der Mann, der dieses Schwert hält!« gab ich zur Antwort. »Willst du, daß ich es dir in den Leib stoße?«
»Du bist nicht Marsias!« rief der Mann neben ihm.
»Ich übernehme hier das Kommando!« sagte ich.
Die Männer blickten sich unsicher an.
»Wir können die Mauer nicht halten«, sagte ein Soldat.
»Das ist wahr«, erwiderte ich. »Ich werde euch nicht belügen. Diese Mauer ist nicht zu halten. Aber welchen Preis müssen die Cosianer dafür entrichten?«
»Einen hohen«, sagte der Soldat grimmig.
»Diejenigen von euch, denen der Mut dafür fehlt, sollen sich unten zwischen den Frauen und Kindern verstecken!«
»Das Leben ist kostbar«, sagte ein Mann. »Aber so kostbar wiederum auch nicht.«
Plötzlich ertönten die Fanfaren, und die elf Belagerungstürme setzten sich rasselnd und quietschend in Bewegung.
»Beeilt euch!« rief ich.
»Holt Steine, Pfähle, Tarndraht!« riefen die Männer.
17
Die Zugbrücken der Belagerungstürme waren noch nicht gesenkt. Die Vorderseite der Holzbauten, deren Breite in dieser Höhe etwa fünf Meter betrug, fiel senkrecht herab, damit sie genau mit der Zitadellenmauer abschlossen. Sie waren noch etwa zwei Meter weit entfernt. Die Brückenachsen, die krachend auf die Zinnen herabschwingen würden, überragten die Mauer etwa anderthalb Meter. Das verlieh den Angreifern beträchtlichen Schwung, da sie abwärts stürmen konnten, gleichzeitig war es nicht so steil, daß sie Gefahr liefen, den Halt zu verlieren. Die Höhe der Türme war nicht willkürlich gewählt. Eine simple Rechenaufgabe, denn man wußte, wie hoch die Mauer war. Aus ihrem Inneren drangen leise Geräusche; viele Cosianer drängten sich dort auf engstem Raum.
»Es ist das Warten, das mir nicht gefällt«, sagte ein Soldat in meiner Nähe.
Ich hob das Schwert und senkte es wieder. Entlang der Mauer machten sich die Verteidiger bereit. Feuer wurden entzündet.
Die Türme hatten fast fünf Ehn gebraucht, um die letzten zwanzig Meter zu überwinden.
Jetzt waren sie da.
Es gibt viele Möglichkeiten, sich solchen Belagerungsmaschinen entgegenzustellen. Die wirkungsvollste Methode, die natürlich meistens nicht durchführbar ist, da sie viel Zeit und Material beansprucht, besteht natürlich darin, die Mauer zu erhöhen. Ist genügend Zeit vorhanden, baut man tragbare, fünf Meter hohe Holzwände mit Wehrgängen und Schießscharten, die man den Türmen dann entgegenstellt. Ausfälle, um sie in Brand zu stecken, sind weniger erfolgreich, als allgemein angenommen wird. Die Türme werden gut verteidigt, außerdem erfolgt ihr Einsatz häufig erst dann, wenn die Verteidiger nicht mehr über die nötigen Mittel verfügen, um einen Ausfall zu machen. Davon abgesehen ist es schwierig, solche Konstruktionen in Brand zu setzen, und von Kommandotruppen gelegte Feuer sind meist schnell gelöscht.
Auf einen Fanfarenstoß hin senkten sich elf Brücken ratternd den Zinnen entgegen.
Sobald sie auf den Stein auftrafen, stürmten Dutzende Männer voran, brachen wie Lava aus einem Vulkan oder Wasser aus einem Geysir hervor, liefen mit hochgehobenen Schilden die drei Meter breiten Brücken entlang und griffen an. Pfähle, Piken, Steine, Draht, Stahl und Feuer stellten sich ihnen entgegen. Bei zwei Türmen kamen große Holzbalken zum Einsatz. Der eine Balken war sechs Meter lang und dreißig Zentimeter breit und steckte in einem Winkel von zwanzig Zentimetern in einem Fundament aus schnell aufgeschichteten Steinen. Zehn Männer bedienten ihn mit Seilen. Der Balken fegte einen Augenblick, nachdem die Brücke auf die Zinnen aufschlug, quer über sie hinweg, um dann, nur einmal eingesetzt, hinter die Brustwehr zu fallen. Die getroffenen Cosianer stürzten schreiend in die Tiefe, aber die nächsten Männer folgten ihnen schon und schwärmten auf die Mauer, um sich in dem an dieser Stelle gespannten Tarndraht zu verfangen, wo sie blutüberströmt ins Taumeln gerieten und von Steinen und Stahl empfangen wurden.
An den anderen Balken hatte man zwei Querbalken gebunden, die von jeweils zehn Männern gehalten wurden. Die Sturmbrücke war kaum heruntergelassen worden, als die Verteidiger mit diesem Rammbock nach vorn eilten und ihn in die Höhe hielten. Die stabile Barriere spaltete den Strom der Angreifer; viele Männer am Brückenrand wurden von ihren Kameraden unbeabsichtigt in die Tiefe gestoßen, eine Gefahr, mit der man in der Schlacht auf einer solchen Brücke jederzeit rechnen muß. Soldaten klammerten sich an dem Balken fest oder versuchten, unter ihm hindurchzukriechen oder über ihn hinwegzuklettern, aber die Verteidiger nutzten den von ihnen eroberten Platz, kletterten auf die Zugbrücke, stellten sich dem Angriff entgegen und nagelten den Feind zwischen Turm und Mauer fest.
Auf zwei der Sturmbrücken begrüßte man die Angreifer mit einem Hagel aus Steinplatten und großen Ziegelsteinen, was weniger den Angriff zum Stocken bringen als vielmehr die Brückenbeschaffenheit trügerischer machen sollte, damit die heranstürmenden Männer darüber stolperten und zu Fall gebracht wurden. Außerdem drängten die nachfolgenden Soldaten, die die Leitern im Turminneren erklommen, ihre bereits im Freien befindlichen Kameraden weiter vorwärts. Auch hier war Tarndraht gespannt worden, in dem sich diejenigen verfangen sollten, die es bis zur Brustwehr schafften.