Immer mehr Cosianer drängten auf die Mauer. Überall auf dem Wehrgang bildeten sie Brückenköpfe, wo der Kampf am heftigsten tobte. Die Männer, die ich zum westlichen Mauerende geschickt hatte, waren daran vorbeigelaufen. Ich habe oft erlebt, daß sich in einer Schlacht seltsame Dinge abspielen, die unerklärlich scheinen, und trotzdem geschehen sie. Ich habe häufig beobachtet, wie ein Mann sich seinen Weg zwischen den Kämpfenden bahnt, wie in einer Menschenmenge auf einem Markt, und niemand stellt sich ihm in den Weg oder schenkt ihm die geringste Aufmerksamkeit. Aber sobald ein Blickkontakt hergestellt wird, entbrennt ein Kampf bis zum Tod. Oder zwei Männer kämpfen Seite an Seite gegen zwei Gegner, dabei sind sie Feinde. Das reiterlose Tharlarion oder Kaiila gehorcht wie das reiterlose Pferd auf der Erde dem Fanfarensignal und greift an oder tritt den Rückzug an. Aber manchmal stehen die Tiere auch einfach nur ruhig da, während sich um sie herum der erbittertste Kampf abspielt. Ich habe gesehen, wie Verwundete von ihren Trägern durch die Ränge der Kämpfenden getragen werden, während andere in aller Ruhe einen Toten plündern, obwohl um sie herum Klingen durch die Luft sausen. Manchmal bemerkt man in einer kurzen Atempause Dinge, denen man sonst nie Beachtung geschenkt hätte, den Lauf einer Ameise oder das unregelmäßige Muster eines Wasserflecks auf einem Stein, das der Beschaffenheit der verwitterten Oberfläche folgt.
Ich erinnere mich an eine Geschichte, die mir ein Krieger über einen Mann erzählte, der neben ihm auf dem Schlachtfeld starb. Der Mann lag auf dem Rücken, und seine letzten Worte lauteten: »Der Himmel ist sehr schön.« Wie mir der Erzähler versicherte, sah der Himmel in diesem Augenblick nicht anders aus als sonst auch. Diese Geschichte kann man nur schwer verstehen. Vielleicht hatte der Sterbende etwas anderes gesehen, oder aber er hatte in diesem Augenblick die Schönheit des Himmels erkannt. Ich ließ die Blicke schweifen und sah einen Mann aus Ar-Station, der mitten auf dem Dach eines Belagerungsturms stand. Er stand einfach da und schien die Aussicht zu bewundern. Ich bezweifelte nicht, daß sie atemberaubend war. Er winkte mir zu. Ich hob das Schwert und salutierte ihm. Plötzlich löste sich zu meiner Rechten ein Cosianer aus einer Gruppe von Kämpfenden und stürmte mit gezücktem Schwert die Treppe zu mir hinauf. Vermutlich wollte er die Ehre erringen, den Befehlshaber der Verteidiger zu töten. Doch dann spritzte unter seinem Helmrand Blut hervor, und er stürzte rücklings die Stufen hinunter.
Im Osten standen vier Belagerungstürme in Flammen.
Keine zwanzig Meter von mir entfernt wurde ein Seil durchtrennt, und Männer stürzten schreiend dem Boden entgegen.
Auf zwei Türmen schlugen Verteidiger auf die Kästen ein, in denen sich die Ketten verbargen, an denen man die Zugbrücken hinabließ. Nur wenige Brücken wurden mit Seilen bedient. Die hatte man einfach durchtrennt, und die Sturmbrücken hingen nun nutzlos von den Türmen hinunter. Die Cosianer versuchten, den gähnenden Abgrund mit Planken zu überwinden. Ich bezweifelte keinen Augenblick lang, daß man die Türme früher oder später unmittelbar an die Mauer fuhr. Das geschieht aus verschiedenen Gründen nicht beim ersten Angriff. Der Turm gelangt in die unmittelbare Reichweite der Verteidiger, die dann die Häute herunterreißen und den Turm mit brennendem Pech beschmieren oder ihn nach Belieben stürmen könnten. Außerdem kann man so verhindern, daß die Zugbrücken heruntergelassen werden, indem man sie mit Pfählen blockiert oder aber Eisenstäbe in die Ketten steckt. Es ist vorteilhafter für den Angreifer, den Turm ein Stück abseits der Mauer in Stellung zu bringen, dann hat man die Zugbrücke besser unter Kontrolle. Man kann sie bei einem Rückzug wieder in die Höhe ziehen und die Belagerungsmaschine auf diese Weise in eine uneinnehmbare Festung verwandeln, nur um sie irgendwann, vielleicht sogar in der Nacht, wieder zu senken und erneut einen Strom von Angreifern über ihre Planken zu schicken.
Ich sah einen Mann, der am Fuß der Mauer brennend davonlief, stürzte und sich am Boden wälzte.
Das dumpfe Dröhnen des Rammbocks hielt an. Allerdings klang es nun verändert. Ich fragte mich nach dem Grund.
Dann glaubte ich, das Schaben einer Leiter zu hören, die in meiner Nähe an die Mauer gelehnt wurde. Das überraschte mich, da die Brustwehr über dem Tor höher als selbst die längste Sturmleiter war.
Ich beobachtete, wie noch mehr Cosianer aus einem Turm quollen, die Brücke entlangliefen und im Tarndraht endeten, wo sie schon die Piken der Verteidiger erwarteten. Von meiner erhöhten Stellung aus konnte ich am Fuß der Mauer Hunderte von Cosianern und ihre Verbündeten sehen. Sie waren etwa neunzig Meter von der Zitadelle entfernt und schienen in aller Ruhe dem Kampf zuzusehen.
Hier und da versuchten die Verteidiger, Holzpfähle unter die Brückenenden zu stemmen. Es befanden sich Cosianer und Verteidiger auf der Brücke, was die Männer auf der Brustwehr aber nicht von ihren Versuchen abhielt. Bei zwei Türmen waren diese Bemühungen erfolgreich gewesen und die Brücken wieder oben. Aber die Cosianer hieben von innen auf die Planken ein, wobei sie die Brücken fast zerstörten, und zwangen sie wieder herunter.
Am Fuß der Mauer ertönte das gequälte Brüllen eines Tharlarion, und ich sah, wie man einige Echsen aus ihrem Geschirr befreite und sie von den brennenden Türmen fortführte. Eines riß sich los und rannte trotz der beruhigenden Rufe seines Führers auf die Stadt zu, und die Männer an den Belagerungsgeräten sprangen beiseite, um es vorbeizulassen.
Zu meiner Überraschung entdeckte ich in diesem Augenblick, wie nur wenige Schritte von mir entfernt eine Leiter zwischen zwei Zinnen auftauchte. Ich lief zu ihr hin und stieß mit dem Schwert nach dem Soldaten, der bereits die Hand halb auf der Innenseite der Brüstung hatte. Er kippte zurück und stürzte in die Tiefe. Der Mann unter ihm hielt den Schild hoch. Ich kam nicht an ihn heran, aber im Gegenzug konnte er mich ebenfalls nicht angreifen. Ich beugte mich über die Brüstung und suchte mit der linken Hand einen sicheren Halt. Mein Gegner erklomm die nächste Sprosse, und ich trat den Schild beiseite. Die Schildriemen hätten ihn beinahe von der Leiter gerissen, er rutschte ein paar Sprossen hinunter, fing sich aber wieder. Er sah nach oben. Ich konnte ihn nicht erreichen. Etwas raste kaum wahrnehmbar an mir vorbei und hinterließ einen bedrohlichen Laut Dann zerschnitt etwas wie ein Messer meine Maske.
Ein Krieger versuchte, an dem Mann mit dem Schild vorbeizuklettern. Er hielt einen Speer. Im nächsten Moment war er eine Sprosse höher. Das Speerblatt zuckte in die Höhe und kratzte über die Innenseite der Zinne. Meine Hand schnellte vor, und ich ergriff den Speerschaft unmittelbar hinter der Spitze. Der Cosianer hielt ihn mit beiden Händen fest. Ich wollte den Speer haben. Doch aus meiner Position heraus konnte ich nicht genügend Hebelkraft gewinnen, um die Pfosten der Leiter zu bewegen. Er ließ nicht los. Dann glitt er von der Sprosse ab und baumelte in der Luft. Ein Armbrustbolzen prallte keine dreißig Zentimeter von meinem Gesicht entfernt gegen die Außenwand der Mauer. Es war, als hätte man einen Pickel in einen Block Eis gerammt, nur mit dem Unterschied, daß die umherfliegenden Splitter hier aus Stein waren. Der Cosianer klammerte sich verbissen an seinem Speer fest. Begriff er denn in diesem Augenblick des Entsetzens nicht, was ihn da eigentlich hielt, daß er nicht an dem Speer hing, sondern letztlich an mir? Ich sah ein, daß ich den Speer nicht bekommen würde und ließ los. Der Cosianer unternahm den verzweifelten Versuch, nach der Leiter zu greifen, aber er schaffte es nicht. Ich zog mich ein Stück zurück. Wieder zischte etwas wie ein Atemhauch an meinem Ohr vorbei. Ich hörte, wie ein weiterer Angreifer hinaufkletterte, und dann noch einer. Rufe ertönten. Ich blickte zwischen den benachbarten Zinnen hindurch. Der Mann mit dem Schild hing noch immer mit einem Fuß in der Luft. Einer seiner Kameraden kletterte an ihm vorbei auf die Brustwehr zu. Ich kehrte an meinen ursprünglichen Standort zurück, um mich ihm entgegenzustellen, aber gerade, als er in Reichweite kam, ertönte ein Geräusch, als würde eine Faust auf Leder treffen, und er riß überrascht die Augen auf. Sein ganzer Körper versteifte sich, er warf Arme und Kopf zurück und stürzte in die Tiefe. Aus seinem Rücken ragte ein Armbrustbolzen.