Im Osten hatten die Cosianer an Boden gewonnen und den Tarndraht hinter sich gelassen. Die Männer aus Ar-Station wurden Schritt für Schritt zurückgedrängt. Der Feind erhielt immer mehr Verstärkung, die sich beeilte, in den Kampf einzugreifen. Der Wehrgang konnte nicht mehr lange gehalten werden.
Ich ging müde zu der gefesselten Sklavin, die nackt und mit verhülltem Kopf auf den Steinplatten lag. Mit dem Fuß drehte ich sie auf den Rücken. Ich ging in die Hocke, schnallte den Schwertgürtel auf und drehte sie wieder auf den Bauch. Dann zog ich die Scheide unter den Seilschlingen hervor, die vom Spieß völlig verbeult war. Mit Händen und Füßen drückte ich sie so flach, wie es nur ging. Die Klinge paßte nun wieder einigermaßen hinein. Ich schnallte mir den Gürtel um und führte den Riemen über die rechte Schulter, wobei die Scheide auf der linken Hüfte ruhte, wie man sie auf dem Marsch trägt. Dies war eine sichere, stabile Trageweise. Der Vorteil des Tragens über der linken Schulter, wobei die Scheide an der linken Hüfte endet, liegt darin, daß man Gürtel und Scheide schnell abstreifen und sich einer möglichen Behinderung entledigen kann.
Der junge Armbrustschütze kam. Er hatte nur noch einen Bolzen. »Die Flammen auf dem Wehrgang verlöschen.« Er sah die Sklavin an. »Sie ist ja noch am Leben«, sagte er verblüfft.
»Ja.«
»Wie kann das sein?«
»Was glaubst du?« fragte ich.
»Ein Trick?«
»Ja.«
»Aber ich habe sie gepfählt auf dem Spieß hängen gesehen.«
»Sie war nur daran gefesselt, nicht gepfählt«, erwiderte ich.
»Wirst du sie jetzt töten?« fragte er.
»Nein. Nicht, wenn sie gehorcht.«
»Du sprichst von ihr wie von einer Sklavin.«
»Bist du eine Sklavin?« fragte ich das Mädchen. »Ein Laut heißt ja, zwei bedeuten nein.«
Sie stieß einen Laut aus.
»Das ist nicht Lady Claudia«, stieß der Junge hervor.
»Das geht dich nichts an.«
»Wo ist Lady Claudia, die Verräterin?«
»Das weiß ich nicht.«
»Es ist, wie Caledonius gesagt hat«, meinte er. »Du bist nicht Marsias.«
»Nein«, sagte ich. »Ich bin nicht Marsias.«
»Wer bist du dann?«
»Ich bin der Mann, den du als deinen Hauptmann anerkannt hast,«
»Ja, Hauptmann«, erwiderte er und hob die Armbrust zum Salut.
Ich gab ihm neue Befehle, nach deren Ausführung er wieder zur Plattform zurückkehren sollte. Dann bückte ich mich und löste die Fußfesseln meiner Sklavin. In diesem Augenblick kam der andere junge Bursche, der als Bote auf der Ostmauer diente, keuchend die Treppe heraufgestürmt.
»Sie brechen durch!«
Darauf hatte ich gewartet.
Auch er war überrascht, als er die Sklavin sah. »Das ist nicht Lady Claudia«, sagte er. Daraufhin ignorierte er sie. »Sie haben Bescheid gegeben. Das Tor geht in die Brüche.«
Ich gab ihm die gleichen Befehle wie seinem Gefährten; auch er sollte anschließend zu mir zurückkehren.
Danach begab ich mich noch einmal zur Brustwehr und ließ den Blick über den verbrannten, geschleiften Boden schweifen, die Belagerungsmaschinen, die Soldaten, die zerstörten Gebäude in der Ferne. Im Osten der Stadt gab es noch immer Rauchwolken. Dort brannte es schon seit Tagen, Ich konnte sogar die weit entfernte Stadtmauer sehen. Es schien schon so lange her zu sein, daß man sie durchbrochen hatte. Dann holte ich langsam die Flagge von Ar-Station ein. Das würden nicht die Cosianer tun. Ich verzichtete darauf, an ihrer Stelle ein anderes Tuch zu hissen.
»Wir haben uns bis zur Westtreppe zurückgezogen«, verkündete der Armbrustschütze atemlos den Vollzug meiner Befehle.
»Nimm die Sklavin und bring sie zu den Frauen und Kindern. Dann gehst du zu der Stelle des Wehrgangs, die an der Plattform hier vorbeiführt. Dort findest du Sklavenringe im Boden. Nimm ein langes Seil und mach es dort fest.« Er nickte. »Dann gehst du zu deinen Kameraden und wartest auf mein Zeichen.«
»Ja, Hauptmann!«
Er wandte sich der Sklavin zu. »Hoch mit dir, Frau!« Die einstige Lady Publia gehorchte. Ich sah den beiden nach, wie sie die Treppe zum Wehrgang hinuntergingen.
Der andere Junge kam die Osttreppe hinauf.
»Die Fahne!« rief er.
Ich gab sie ihm. »Behalte sie«, sagte ich. »Eines Tages flattert sie vielleicht wieder im Wind.«
Tränen glitzerten in seinen Augen.
»Kehre zu deinen Kameraden zurück«, sagte ich. »Achte auf mein Signal. Ich werde mich hinter die Plattform stellen und es von dort aus geben.«
Er eilte fort.
Ich blickte über den Rand der Plattform. Der Schütze hatte sich zu seinen Kameraden gesellt. Er stand in der letzten Reihe.
Sein Gefährte stand auf der anderen Seite; er hatte sich in die Flagge gehüllt.
Es war wichtig, den Rückzug auf beiden Wehrgängen aufeinander abzustimmen, damit er geordnet durchgeführt wurde und es zu keinen Flankenangriffen kam. Ich glaubte, den Männern etwas Zeit verschaffen zu können, indem ich den Cosianern scheinbar eine erstrebenswerte Trophäe anbot: die Gefangennahme des Mauerkommandanten. Ich ging davon aus, daß sie in Anbetracht der an diesem Nachmittag erlittenen Verluste daran interessiert waren.
Unten ertönte das Pochen des Rammbocks; in die dröhnenden Schläge mischten sich die unverkennbaren Geräusche brechenden Holzes und zerspringender Eisenbeschläge.
Ich stieg die Treppe hinunter und eilte hinter die Plattform. Wie überall lagen auch hier Tote und Verwundete, sowohl Angreifer als auch Verteidiger. Ein verwundeter Cosianer sah mich und versuchte, auf die Beine zu kommen. Er war blutüberströmt. Sein Bart war blutverkrustet. Seinen Helm hatte er verloren. Er konnte kaum die Klinge heben.
»Wie stehen die Dinge in Cos?« fragte ich.
»Gut«, antwortete er.
»Leg die Klinge nieder«, schlug ich vor.
Er überlegte einen Moment lang und zuckte dann mit den Schultern. Er konnte sie kaum halten.
Ich trat sie ihm aus der Hand.
»Es scheint, als gehörte der Tag euch«, sagte ich.
»Das ist wahr«, flüsterte er.
»Ruh dich aus.«
Er taumelte gegen die Mauer der Plattform, nicht weit von den Sklavenringen entfernt.
Von links und rechts drang das helle Klingen aufeinandertreffender Schwerter und das dumpfe Krachen von Eisen auf Schilder an meine Ohren. Ich drehte mich langsam einmal nach jeder Seite um und vergewisserte mich, daß meine beiden Boten mich sahen. Dann hob ich das Schwert in die Höhe und senkte es wieder. Sofort begannen die Verteidiger mit dem geordneten Rückzug, die hintersten Reihen machten den Anfang, die vorderste Reihe wich kämpfend zurück. Beide Seiten hielten auf die Treppen zu, die am nächsten waren, die beiden Tortreppen, die sich westlich und östlich des Tores befanden. Ihre Stufen waren schmaler als der Wehrgang und konnten daher von weniger Männern gehalten werden.
»He, ihr da!« rief ich den Cosianern zu und schwenkte das Schwert. Soldaten zeigten auf mich. Ich hatte keinen Zweifel, daß mich zumindest einige von ihnen auf der Plattform gesehen hatten und sich zusammenreimten, daß ich die Befehle auf der Mauer gegeben hatte.
Ich schob das Schwert in die Scheide.
Es muß so ausgesehen haben, als wären meine Fluchtwege abgeschnitten, als säße ich zwischen beiden Treppen fest. Außerdem hatte ich die Waffe weggesteckt. Bedeutete das nicht, daß ich mich in der Falle wähnte, was tatsächlich der Fall zu sein schien, daß ich mich aus diesem Grund entschlossen hatte, keine Gegenwehr zu leisten, sondern mich zu ergeben?
Beinahe gleichzeitig stürmten auf beiden Seiten etwa zwei Dutzend Cosianer los. Andere blieben auf Höhe der Treppen stehen, um sich die Angelegenheit nicht entgehen zu lassen. Das würde einigen Druck von den umkämpften Treppen nehmen. Der Rückzug meiner Verteidiger würde sich einfacher gestalten und ihnen die nötige Zeit verschaffen, um Tore zu schließen und Gänge abzuriegeln.