Mit dem Fuß stieß ich die Taurolle am Rand des Wehrgangs in die Tiefe, bückte mich und kletterte so schnell wie möglich nach unten. Ich rutschte das Seil nicht hinunter, da meine Hände ungeschützt waren. Schon zwölf Meter reichen aus, um einem die Haut von den Händen zu brennen. Es kann durchaus zur Folge haben, daß man wochenlang ein hilfloser Krüppel ist. Unter bestimmten Umständen mag das ein akzeptabler Preis sein, aber nicht, wenn man damit rechnen muß, bald wieder ein Schwert zu führen.
Auf dem Hof lag ein Hügel aus Trümmern, Sand und Gestein, und sobald ich ihn erreichte, eilte ich rutschend und springend hinunter, wobei ich mich noch immer an dem Seil festhielt. Erst als ich den Boden des Innenhofs erreicht hatte, wagte ich einen Blick in die Höhe, um festzustellen, ob sich oben auf dem Wehrgang Armbrustschützen versammelt hatten. Es war keiner zu sehen. Ein oder zwei Cosianer sahen aus, als dächten sie darüber nach, mir das Seil hinunter zu folgen, aber sie taten es nicht. Auf dem Schutthügel würden sie einen unsicheren Stand haben, und im Hof selbst liefen sie Gefahr, daß sie für einige Zeit von ihren Kameraden abgeschnitten waren. Schließlich konnte sich nur einer nach dem anderen an dem Seil herablassen. Alles in allem konnte ich ihnen ihr Zögern nicht verdenken.
»Gut gemacht«, sagte eine junge Stimme.
Ich drehte mich um. Es war der Armbrustschütze, mein Bote.
»Ich habe mir gedacht, daß das dein Plan ist, nachdem ich das Seil dort befestigen sollte«, sagte er.
Ich grinste. »Du bist ein schlauer Bursche.«
»Also habe ich deinen Abstieg gedeckt.«
Das war also noch ein Grund gewesen, warum mir niemand das Seil hinunter gefolgt war. Im Gegensatz zu mir hatten ihn die Cosianer auf dem Wehrgang gesehen. Sicher, er hatte nur noch einen Bolzen für seine Armbrust. Aber keiner hatte den Anfang machen wollen.
»Du bist ein tapferer junger Bursche«, sagte ich, »mit nur einem Schuß herzukommen.«
»Ich werde schon irgendwo Bolzen auftreiben«, sagte er.
»Danke.«
»Nicht der Rede wert«, sagte er.
Der Flaggenträger, mein anderer Bote, betrat den Hof. Er sah zum Wehrgang hoch. Die Cosianer verschwanden und eilten zu den Treppen.
»Die Zitadelle wird geräumt«, verkündete er.
»Wir werden uns in den Hafen zurückziehen«, sagte der Armbrustschütze. »Dort wird die letzte Schlacht stattfinden.«
»Wir haben ihnen einen guten Kampf geliefert«, meinte sein Freund.
»Der Meinung bin ich auch.«
»Ich möchte, daß ihr zu den Frauen und Kindern geht«, sagte ich.
»Wir würden lieber hier bei dir bleiben, Hauptmann«, sagte der Armbrustschütze.
»Die Frauen und Kinder werden euch brauchen«, sagte ich.
»Und du?«
»Ich will sehen, wie die Dinge am Zitadellentor stehen.«
Er hob die Armbrust zum Salut. Dann verschwanden die beiden durch ein Innenportal am anderen Ende des Hofes. Ich begab mich zu einem der kleineren Seitenportale und lief den sich anschließenden Korridor entlang bis in die Nähe des Haupttores. Das Tor, das ebenfalls in einen Hof führte, setzte sich aus einem Innenund einem Außentor zusammen, zwischen denen sich ein überdachter, etwa zwölf Meter langer Gang erstreckte. Ich traf auf sich zurückziehende Verteidiger.
»Wir geben das Tor auf, Marsias«, sprach mich einer der Männer an. »Komm mit uns!«
Ich nickte. Erst danach begriff ich, daß er mich als Marsias angesprochen hatte, und mir fiel wieder ein, daß ich noch immer die Kapuze trug. Einer der Männer auf der Mauer hatte erkannt, daß ich eben nicht dieser Marsias war. Trotzdem waren sie alle meinem Befehl gefolgt.
Ich kam in dem geschlossenen Gang zwischen dem Innen- und dem Außentor heraus. Das untere Drittel des Außentores wurde von einem gewaltigen Hügel aus Sand, Felsen und allen möglichen sperrigen Dingen blockiert. Es war so gut wie unmöglich, den Rammbock in den schmalen Gang zu fahren.
An der Seite des Ganges saß Aemilianus auf einem Stein und hielt sich den Kopf. Er blutete. Männer aus allen Teilen der Zitadelle eilten an ihm vorbei, vermutlich auf dem Weg in den Hafen.
Plötzlich erscholl über unseren Köpfen ein berstendes Geräusch, als Holz zersplitterte, und dann schoß ein fast zwei Meter großer Kopf aus schwarzem Eisen, einem mythologischen Ungeheuer gleich, über den Rand des Schutthügels; er hatte an beiden Seiten gewundene Hörner und war einem ausgewachsenen Verrbock nachempfunden.
Ich hatte so ein Ding noch nie aus dieser Nähe gesehen. Ich zog das Schwert und eilte den Schutthügel hoch, um mir den Rammbock genau anzusehen, aber als ich näher kam, schwang er gefangen in seinem Rhythmus wieder zurück. Ich konnte durch das Loch undeutlich Gestalten ausmachen, die sich aufgeregt bewegten. Dann mußte ich mich auch schon zurückziehen und meine Augen schützen, denn der Riesenverr durchbrach das Tor erneut und schleuderte Holzsplitter durch die Luft. Er war keinen halben Meter von mir entfernt. Ich streckte die Hand aus und berührte ihn. Als er diesmal zurückschwang, blickte ich den langen Schaft entlang ins Innere des Unterstandes; der Rammbock hatte eine Länge von fünfzehn Metern und ruhte in zahlreichen Lederschlingen, er wurde mit Seilen von mindestens einhundert Männern bedient, die mit nacktem Oberkörper schweißgebadet im Schutz des Unterstandes standen und ihre Arbeit taten. Als er diesmal zurückgezogen wurde, sprang plötzlich ein Cosianer durch die Öffnung, und ich parierte seinen Schwerthieb und durchbohrte ihn, obwohl ich vermutlich genauso überrascht gewesen war wie er. Seine Kameraden zogen ihn blutend in Sicherheit. Rufe ertönten, und ich begab mich mit einem Sprung erneut zur Seite und bedeckte die Augen, während der gewaltige Kopf sich erneut seinen Weg durch das Außentor der Zitadelle bahnte.
Ich blieb in der Nähe des Durchbruchs stehen, aber diesmal stürmte niemand durch ihn hindurch. Ich blickte wieder am Schaft des Rammbocks entlang in den Unterstand mit den vielen Männern. Ein Armbrustbolzen verfehlte mich. Ich hörte, wie es hinter mir polterte; der westliche Korridor wurde versperrt, als man die Stützen eines mit Felsen beladenen Gerüsts wegschlug. Aemilianus blieb blutend auf dem Stein sitzen. An seiner Seite harrten zwei seiner Männer aus, einer trug die Abzeichen eines Offiziers. Vermutlich waren es seine Adjutanten. »Komm schon«, hörte ich jemanden rufen, womit vermutlich Aemilianus gemeint war. »Wir schließen jetzt den Ostgang!« Irgendwo in der Nähe des Hafens ertönte ein Fanfarenstoß. »Das ist das Zeichen zum Rückzug!« rief der Adjutant. »Wie du befohlen hast. Komm mit, Kommandant!« Also wurde die Zitadelle aufgegeben. Aber Aemilianus rührte sich nicht von der Stelle. Ich roch Rauch. Plötzlich erschien wieder ein Cosianer in dem Loch, das man in das Tor geschlagen hatte. Unsere Schwerter trafen dreimal aufeinander, dann verschwand er wieder. Ich warf mich zur Seite, und der Rammbock raste an mir vorbei. Wieder erschien ein Soldat in der Öffnung, gefolgt von zwei Kameraden. Funken flogen durch die Luft, als Stahl auf Stahl traf. »Vorsicht!« brüllte jemand vor dem Tor. Im Gegensatz zu meinem Gegner konnte ich sehen, daß der Rammbock vorwärts donnerte. Er mußte die Gefahr gekannt haben, hatte aber vermutlich nicht damit gerechnet, an der Öffnung festgehalten zu werden. Er ließ von mir ab, und seine beiden Kameraden sprangen zur Seite, um ihm Platz zu machen, aber es war zu spät. Der Eisenverr traf ihn, schmetterte ihn gegen die Trümmer und trug ihn dann noch anderthalb Meter durch die Luft, bis er sich löste und den Schutthügel hinunterrollte. Zwei Teile eines Körpers blieben liegen. Der Verrschädel und die Torseite waren blutbespritzt. Mehrere Männer versammelten sich in ihrer Nähe.
»Haltet die Ramme an!« rief jemand, während ein Speer nach mir stach. Aber der Rammbock raste wieder heran. Ich packte den Speer ein Stück unterhalb der Spitze. Er zerbrach wie ein Zweig, als der gigantische Kopf wieder herandonnerte. Ich warf den Rest fort. Der Vorderteil des Rammbocks mit seinen Hörnern war so gebaut, daß er sich nicht in der von ihm geschaffenen Öffnung verkeilte und dort steckenblieb. Der Versuch, einfach ein paar der Balken, die aus dem Schutt ragten, hinter die Hörner zu schieben und ihn so zu blockieren, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Der Schutt war nicht zu gebrauchen. Doch die Felsbrocken konnten als Notbehelf dienen. Wieder forderte jemand lautstark, den Rammbock zum Stehen zu bringen, aber er mußte mindestens noch einmal nach vorn schwingen. Die Soldaten zögerten mit ihrem Angriff. Dann rückte der riesige Eisenschädel wieder in mein Blickfeld und wurde scheinbar unaufhaltsam größer. Als die blutige Ramme durch das Tor brach, stemmte ich mich gegen einen großen Felsblock, der aus dem Schutt herausragte, und rollte ihn vor die Unterkante der Öffnung. Ein Knirschen erfüllte die Luft, als beim Rückschwung Eisen und Fels aufeinandertrafen; die Ramme kam zum Stehen. Den Männern an den Seilen war der Schwung genommen, aber sie konnten versuchen, den Schaft zurückzuziehen oder ihn wieder ein Stück nach vorn bringen, bis er genug Schwung hatte, um das Hindernis zu überwinden.