Das war knapp gewesen, vor ein paar Ehn auf der Straße. Ein bißchen harte Arbeit würde den Banditen bestimmt nicht schaden. Im Süden, in der Nähe von Venna, gab es meines Wissens mehrere solcher Arbeitsketten. Die Stadt setzte ihre Mauern instand. Auf dem Weg nach Norden war mir öfter zu Ohren gekommen, daß Ionicus aus Cos, der Besitzer mehrerer solcher Ketten, zur Zeit kaufte. Solche Ketten sind unpolitisch. Nur so war es überhaupt möglich, daß Venna, ein Verbündeter von Ar, die Dienste einer solchen Kette in Anspruch nahm, obwohl ihr Besitzer aus Cos stammte.
Wenn es schon die Cosianer nicht störte, gab es meiner Meinung nach auch keinen Grund, warum sich die Bürger Vennas darüber aufregen sollten, wenn sie nun billige Arbeitskräfte brauchten.
Der Brauch, Gefangene nackt auszuziehen, ist auf Gor weit verbreitet. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Es demütigt den Gefangenen und freut denjenigen, der ihn gefangen hat. Es macht dem Gefangenen klar, daß er sich in der Gewalt eines anderen befindet. Außerdem erschwert es den Versuch, Waffen zu verbergen. Auf Gor gibt es keine allgemein gebräuchliche Gefangenenkleidung, keine ›Gefängnisuniform‹. Während andere Kulturen ihre Gefangenen auf bestimmte Weise kleiden, um sie als Gefangene zu kennzeichnen und andere auf ihren Status aufmerksam zu machen, erreicht man dieses Ziel auf Gor durch den völligen oder zumindest beinahe völligen Verzicht auf Kleidung. Diese Nacktheit des Gefangenen macht jedermann auf seinen Status aufmerksam. Und sollte dem Gefangenen trotzdem die Flucht gelingen, sieht er sich dem zusätzlichen Problem der Beschaffung geeigneter Kleidung gegenüber. In diesem Zusammenhang sollte man vielleicht auch erwähnen, daß die meisten Goreaner etwas gegen Verbrecher haben. Also stört es sie in keiner Weise, ihnen die Kleidung vorzuenthalten. Für sie ist es ein Zeichen, daß man den Übeltäter erwischt hat und er nun damit rechnen muß, daß er so behandelt wird, wie er es verdient.
Diese Anmerkungen beziehen sich natürlich hauptsächlich auf freie Verbrecher und nicht etwa Kriegsgefangene oder Sklaven. Nimmt man Kriegsgefangenen die Kleidung weg, ist dies im allgemeinen nur eine vorübergehende Maßnahme; man will sie absondern, da viele goreanische Soldaten und vor allem Söldner keine Uniformen tragen. Außerdem soll verhindert werden, daß sie Waffen verbergen. Ob nun Sklaven Kleidung tragen oder nicht, obliegt ihrem Herrn. Zum Beispiel werden in den Häusern der Sklavenhändler oder auf Sklavenmärkten schöne Frauen fast immer nackt gehalten.
Wieder erhellte ein Blitz die Dunkelheit, und mein Blick fiel erneut auf den ›Schmiereimer‹ voller Pech und Talg, der an seinem Haken baumelte. Alles in allem würden sich die Straßenräuber bestimmt glücklich schätzen, im Süden einer Arbeitskette zugeführt zu werden. Vielleicht ließ man sie sogar nach einer gewissen Zeit wieder frei, wenn man zu der Ansicht kam, daß sie ihren Preis mehrmals eingebracht hatten und man außerdem der Meinung war, daß sie hart arbeitende und ausreichend fügsame Mustergefangene gewesen waren. Wegen des Sturms und des damit verbundenen Regens und Winds hatte keiner der Reisenden eine andere Art der Bestrafung vorgeschlagen, die man unter der Bezeichnung ›Wagengerechtigkeit‹ kennt und die durchaus auch Anwendung findet. Ich will hier nicht ins Detail gehen, aber man braucht dazu das Pech, den Talg und Feuer. Wie ich schon sagte, Goreaner haben nicht viel für Verbrecher übrig.
Ich holte mein Bündel von dem Wagen, neben dem ich herging, ließ ihn weiterfahren und eilte dann zur linken Straßenseite. Hinter mir fuhr das nächste Gefährt vorbei. Ich blickte in die Höhe. Beim nächsten Blitz sah ich das Felsplateau, das von der Herberge Zum Krummen Tarn gekrönt wurde. Wind und Regen stürmten gegen meine rechte Körperseite an. Ich verließ die Straße. Ein breiter, mit Schotter bedeckter Vorplatz grenzte an die Herberge. Er war mindestens je fünfzig Meter breit und lang, genug Platz, daß sogar ein von zehn Tharlarion gezogener Wagen wenden konnte. Vor mir an einem Pfahl hing eine Laterne. Ich hielt darauf zu. Im Licht der Blitze erkannte ich mehrere Wege, die sich über das Plateau zogen. Sie führten zu Rastplätzen, auf denen Wagen ihr Lager aufschlagen konnten.
Zu meiner Linken, auf der dem Wind abgewandten Seite, standen mehrere dicht zusammenstehende Wagen. Unmittelbar vor mir gab es noch mehr; sie waren aus dem Regen gedreht. Durch die Sohlen meiner Sandalen fühlte ich den Schotter des Wendeplatzes. Ich blieb bei einigen der Wagen stehen. Dann ging ich weiter auf die Laterne zu. Sie krönte einen Pfahl, der an der rechten Ecke der Wagenbrücke aufragte, die über einen Graben führte; auf der anderen Seite, ein Stück hinter der Brücke, befand sich das Herbergstor. Im Licht des nächsten Blitzes sah ich zwei Mädchen, die unter dem Rand der Segeltuchplane eines Wagens hervorspähten. Sie entdeckten mich ebenfalls, voller Angst. Als der Himmel das nächste Mal erleuchtet wurde, lag die Plane wieder gerade da. Ich hatte kaum mehr als ihre Augen gesehen, zweifelte aber keinen Augenblick lang, daß sie Kajirae waren. Sie hatten den Eindruck von Frauen gemacht, die gelernt hatten, daß der Mann ihr Herr war. Ich ging über den nassen Kies auf die linke Seite der Wagenbrücke zu. Dort blieb ich stehen, um über den Graben zu blicken. Seine Breite betrug etwa vierzig Meter. Der Boden bis zur Staumauer, die zu niedrig war, um einem Mann Deckung zu gewähren, war leicht abschüssig. Am Fuß der Mauer befanden sich ungefähr alle zwanzig Schritte Öffnungen, damit Regenwasser in den Graben abfließen konnte. Die Neigung des Bodens hätte es sehr erschwert, den Graben auszutrocknen. Natürlich wäre es zu schaffen gewesen, die Männer hätten eben unter einem Unterstand arbeiten müssen, der sie vor Geschossen wie Pfeilen oder von Schleudern abgefeuerten Stahlkugeln schützte; besser wäre es natürlich gewesen, diese Arbeit von Belagerungsingenieuren ausführen zu lassen, aus dem Schutz eines Tunnels heraus. Natürlich hätten beide Unternehmungen viele Männer und noch mehr Zeit erfordert; es wäre eine Ingenieurleistung von erheblichem Ausmaß erforderlich gewesen.
Natürlich gibt es zahlreiche andere Möglichkeiten, eine solche Aufgabe zu bewältigen. Zum Beispiel konnte man versuchen, den Graben mit Hilfe von Pontons oder Flößen mit darauf befestigten Belagerungsleitern zu überwinden. Oder ihn einfach zuzuschütten. Das Aushungern einer Garnison ist für gewöhnlich keine besonders wirksame Methode. Das hat verschiedene Gründe. Normalerweise haben die Verteidiger große Mengen an Vorräten eingelagert, oftmals genug für ein oder sogar zwei Jahre; Wasser beziehen sie aus innenliegenden Belagerungszisternen oder durch Regen oder den Wassergraben. Meistens haben die Belagerer nach einiger Zeit die Lebensmittelvorräte der Umgebung erschöpft, und es kommt vor, daß sie lange vor den Belagerten unter Hunger leiden. Eine zeitlich unbegrenzte Belagerung erfordert eine weitreichende und leistungsstarke Logistik, Vorräte müssen erworben, transportiert und beschützt werden. Sicher hängt viel von der Anzahl der Belagerer und der Belagerten sowie der Art des Festungswerks und dergleichen ab. Falls die Belagerten nicht genügend Kämpfer haben, um die Mauern zu bemannen, werden ihre Reihen so dünn sein, daß sie einen Angriff von mehreren Seiten mit nachfolgendem Sturm förmlich herausfordern. Doch statistisch gesehen sind Belagerungen fast immer ein Fehlschlag. Darum haben Städte auch hohe Mauern. Innerhalb der Stadt gibt es zusätzlich eine uneinnehmbare Zitadelle, in die sich die Verteidiger zurückziehen können. Dort werden sie selbst dann noch sicher sein, wenn die Stadt um sie herum bis auf die Grundmauern niederbrennt.