Wir waren zu elft. Zwei waren verwundet. Dazu gehörte der grauhaarige Bursche, der zu den ersten gehört hatte, die sich an meine Seite stellten. Er war beim letzten Angriff verletzt worden. Genau wie der andere Verwundete. Wie ließen die beiden ins Boot hinab. Zwei weitere Männer gesellten sich zu ihnen. Das kleine Boot schaukelte und wäre beinahe umgekippt.
»Wartet«, sagte der Mann an den Rudern und hob die Hand.
Wir sahen zu, wie er ablegte.
»Es sind jetzt weniger Fische zu sehen«, sagte ein Soldat.
»Bleib, wo du bist«, riet ich ihm. Seine Beobachtung stimmte, viele der Fische waren anscheinend verschwunden. Ich war sogar überzeugt davon, daß sie mit ihrer Beute im Maul in den Hafen, wenn nicht sogar in den Fluß hinausgeschwommen waren, vermutlich verfolgt von ihren weniger erfolgreichen Artgenossen. Trotzdem war das Wasser noch immer gefährlich. Manchmal verbergen sich Flußhaie wie Voskaale im Schatten der Piere und ihrer Pfähle, wo sie oft Beute in Form von Abfällen und anderen Leckerbissen machen. An einigen Stellen waren noch immer deutlich blutige Schlieren im Wasser sehen.
»Seht nur!« sagte der Soldat. Er zeigte auf die Zitadelle. Es sah so aus, als würden dort viele kleine Boote bereitgemacht sowie eine beträchtliche Zahl floßähnlicher Gebilde, die man aus allen möglichen Materialien aus der Zitadelle zusammengebaut hatte.
»Alles war umsonst«, sagte der Mann neben ihm. Dann sprachen sie alle.
»Der Hafen wird von cosischen Schiffen und der Floßkette versperrt. Eine Flucht ist unmöglich.«
»Anscheinend wollen sie nicht warten, bis wir verhungert sind.«
»Es sind ungeduldige Burschen.«
»Sie haben lange Zeit gewartet. Sie möchten die Sache eben heute nachmittag zu Ende bringen.«
»Das sollte nicht schwer sein.«
»Auf der Pier wird es ein Massaker geben. Dort gibt es keine Deckung. Alle stehen dort wie auf dem Präsentierteller. Was kann eine Handvoll Schilde da schon ausrichten? Nichts, oder so gut wie nichts. Sie können tun, was sie wollen. Sie können sich von den Booten und Flößen aus ihre Ziele suchen oder einen Frontalangriff starten.«
»Vermutlich werden sie ihren Landsleuten vor der Hafensperre ein Signal geben, damit sie gleichzeitig von zwei Seiten angreifen können.«
»Es ist alles vorbei.«
»Ja. In zwei oder drei Ahn wird alles vorbei sein.«
»Ihr beiden geht in das Boot«, sagte ich, als das nächste Ruderboot an den Pfahl stieß. Der Ruderer, ein Fischer, streckte die Hand aus, um den beiden Männern beim Einsteigen zu helfen. Wir hatten das letzte Boot überladen.
Jetzt waren wir nur noch zu fünft. Wir sahen zu, wie das Boot ablegte und langsam zur Pier ruderte.
»Ich hätte mich gern von meiner Gefährtin verabschiedet«, sagte ein Mann, offenbar ein Bürger.
»Vielleicht ist sie ja da draußen«, sagte sein Freund und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Wann wird es vorbei sein, was glaubt ihr?« fragte ein Soldat.
»Zur fünfzehnten Ahn«, erwiderte sein Kamerad grimmig.
»Das ist gut.«
»Wieso ist das gut?«
»Dann müssen wir nicht noch eine Abendmahlzeit versäumen.«
Kurze Zeit später legte ein weiteres der winzigen Boote an der Brücke an, und die beiden Soldaten stiegen ein.
Jetzt waren wir nur noch zu dritt.
»Die Frauen und Kinder tun mir unendlich leid«, sagte der Bürger und sah zur Pier hinüber. Dort drängten sich Zivilisten, es mußten zwischen zweitausend und zweitausendfünfhundert Frauen und Kinder sein, und allenfalls dreihundert kampfbereite Männer. Wenige Augenblicke später traf das nächste Ruderboot ein.
»Ich werde mit dir warten«, sagte der Bürger zu mir.
»Nein«, erwiderte ich. »Geh nur.«
Die beiden Männer kletterten vorsichtig in das Boot.
Ich blieb allein zurück.
Rechts von mir trieb ein Fragment der Brücke halb untergetaucht im Wasser. Ich sah über den Schildrand, dann erhob ich mich und nahm den Schild wieder hoch.
Ein einzelner Mann kam auf mich zu; er trug einen Helm, und sein Schwert steckte in der Scheide. Er hatte keinen Schild. Es schien ein langer Weg bis zu mir zu sein. Als er ein paar Meter von mir entfernt war, konnte ich seine Schritte hören. Das Wasser schlug gegen das Pfahlwerk unter der Brücke. Am Himmel ertönte der Schrei einer Voskmöwe. Aus der Zitadelle stieg noch immer Rauch auf, der vom Wind auf den Fluß hinaus getrieben wurde.
»Komm nicht näher«, sagte ich.
»Der Tag gehört Cos!«
Ich nickte.
»Es bleibt nur noch das Massaker auf der Pier zu erledigen.«
Darauf blieb ich ihm die Antwort schuldig.
»Und so war alles, was du getan hast, vergebens.«
Ich schwieg. Was hier geschehen war, war in die Annalen der Vergangenheit eingegangen. Die Geschichte hat Berge und Gipfel, und nicht alles ist der Prolog zu einem letzten Akt, dem nichts mehr folgt.
»Viele glauben, du kommst gar nicht aus Ar-Station«, sagte der Fremde.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Du könntest ein Söldner sein«, fuhr er fort. »Cos braucht solche Männer. Ich komme im Auftrag von Aristimenes, dem Befehlshaber von Cos im Norden. Ihm hat deine Arbeit gefallen, auch wenn sie zu seinen Lasten ging. Ich habe hier einen Beutel voller Gold. Vermiete Cos dein Schwert, und er gehört dir.« Er ließ den Geldbeutel, dessen Riemen verschnürt waren, auf die Brücke fallen. Dann trat er einen Schritt zurück. »Siehst du«, sagte er. »Wir schlagen dir nicht den Kopf ab, während du dich danach bückst.«
»Ich bin heute nicht auf irgendwelchen Sold aus«, sagte ich.
»Dann kommst du also doch aus Ar-Station, oder gar aus Ar selbst?«
»Nein.«
»Mit dem Gold kommt ein Kommando und Frauen, ausgebildete Sklavinnen, die einen Mann auf alle erdenklichen Arten erfreuen können.«
»Aristimenes ist großzügig.«
»Wie lautet deine Antwort?«
»Ich will heute keinen Sold annehmen.«
»Und was ist mit den Frauen?« fragte er.
»Die nehme ich mir selbst.«
Er ging zu dem Gold und hob es auf. Dabei behielt er mich nicht einmal im Blickfeld. Ich wertete dies als Tribut an meine Ehre.
Er schob den Geldbeutel zurück in seine Tunika. »Du bist also kein Söldner?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Entscheide dich für Cos.«
»Nicht heute.«
»Aber heute wäre ein guter Tag, um sich für Cos zu entscheiden«, sagte er mit einem Blick auf den Pier.
»Warum hat man Ar-Station keine Verstärkung geschickt?« fragte ich.
»Lurius aus Jad, der Ubar von Cos, wollte es nicht.«
»Ich verstehe.« Wie luftig mußten dann die Höhen des Verrates sein, der sich hinter den Mauern von Ar abspielte.
»Und der Wille von Lurius ist im Norden noch nicht vollkommen ausgeführt.«
Ich verstand nicht, was er damit sagen wollte.
»Ich habe dir das Gold von Cos gebracht«, sagte er. »Wenn ich zurückkehre, bringe ich seinen Stahl. Das ist dir doch bewußt, oder?«
»Die Brücke ist nun bedeutungslos«, sagte ich.
»Nicht für Aristimenes!«
»Ich wünsche dir alles Gute.«
»Ich wünsche dir auch alles Gute«, erwiderte er, drehte sich um und ging schnell auf den Kai zu. Er hatte noch keine fünf Schritte zurückgelegt, als eine Abteilung Cosianer, die bereits dort gewartet hatten, auf die Brücke eilten. Einen Augenblick lang war er wie ein Fels in ihrer Brandung, dann drehte er sich zu mir um. Gleichzeitig legte ein kleines Floß vom Ufer ab. Zwei der Männer, die auf mich zukamen, hatten es zu eilig und trennten sich von ihren Kameraden. Dem ersten schlug ich gegen den Schildrand, und da er sich nicht mehr abfangen konnte, stolperte er von der Brücke. Den zweiten Mann traf ich unterhalb des Schildes am Knie, und er sackte auf die Bohlen. »Wartet, Männer!« rief der Offizier, der mir das Angebot unterbreitet hatte. »Bleibt zusammen, gut so! Die Speere nach unten. Vorsichtig vorrücken. Dort steht nur ein Mann. Die Schwertkämpfer an die Flanken, hinter die Speerträger. Beide Seiten abdecken. Vorwärts.«
»Hilfe!« brüllte der Soldat im Wasser und griff in die Höhe. Er versuchte, einen Pfahl hochzuklettern, rutschte aber immer wieder ab. Er kam nicht an die Holzbohlen heran. Das Brückenstück, das sich zu meiner Rechten befunden hatte, schwamm nun ein paar Meter vom verbrannten Brückenende entfernt im Hafenbecken.