Von Belang ist vielleicht noch die Tatsache, daß Belagerungen nie sehr lange dauern, meistens brechen die Angreifer sie nach wenigen Wochen ab. Sie erkennen entweder die Sinnlosigkeit ihres Tuns oder erleben das Unbehagen gekürzter Rationen; es ist auch schon vorgekommen, daß der Kriegskontrakt ihres Befehlshabers abgelaufen oder die Dienstverpflichtung der Männer vorbei ist. Manchmal wollen die Soldaten – vor allem, wenn es sich um steuerpflichtige Bürgersoldaten handelt – auch einfach nur wieder nach Hause, um ihre Geschäfte fortzuführen oder die herbstliche Ernte einzuholen. Meiner festen Überzeugung nach sind mehr Städte und Dörfer einer List oder Bestechung zum Opfer gefallen als Frontalangriffen. Ein guter Hauptmann kennt die politischen Meinungsverschiedenheiten innerhalb des belagerten Gemeinwesens und versucht sie sich nutzbar zu machen; er macht Versprechungen, nach seinem Sieg die eine oder andere Fraktion an die Macht zu bringen. Die verräterische Gruppe wird den Eroberer später vermutlich sogar als Befreier begrüßen, was in diesem Augenblick vermutlich sogar ihre ehrliche Überzeugung ist.
Dietrich von Tarnburg, einer der bekanntesten Söldnerführer von Gor, hat den Ruf, großes Geschick in solchen Dingen zu haben. Er hat zweifellos mehr Städte mit Gold als mit Eisen erobert. Das verteilte Gold wird natürlich hinterher durch einen großzügigen Griff in die betreffende Stadtkasse zurückgeholt, ganz zu schweigen vom Verkauf aller möglichen Güter wie kostbarer Teller, Teppiche, Kleider, Wandteppiche, eingelegter Holzarbeiten, Silber- und Golddraht, Kunstobjekte, Juwelen, Tharlarion, Tarsk und natürlich Frauen. Diese Gewinne erhält man auch durch die Erhebung einer ›Befreiungssteuer‹, und es ist dann Sache der neuen Machthaber, sie mit guter Miene willkommen zu heißen und sie vor der Bevölkerung zu rechtfertigen.
Das schäumende dunkle Wasser in dem Graben hatte fast die Bohlen der Brücke erreicht.
Die Laterne an dem Pfosten zu meiner Rechten schaukelte wild im Sturm.
Ein Blitz erhellte die Dunkelheit, und einen kurzen Augenblick lang war die Palisade auf der höchsten Stelle des Plateaus zu sehen.
Die Blitze kamen nun immer häufiger.
Die Bohlen der Brücke waren feucht und rutschig. Ihre Breite betrug etwa zwei Meter vierzig; zwei Wagen paßten nicht nebeneinander. Sie führte zu einem überdachten Tor, dem sich vermutlich ein ebenfalls überdachter Hof und ein dahinterliegendes zweites Tor anschlossen. Solche inneren und äußeren Tore sind selten zur gleichen Zeit geöffnet. In dem überdachten Wegstück befanden sich zweifellos Schießscharten, an den Seiten und direkt im Dach. Zwei gewaltige Seile, deren Durchmesser mehr als fünfundzwanzig Zentimeter betrug, ragten von der oberen Torhälfte zur Brücke, wodurch es möglich war, den hinteren Teil nach Gutdünken zu heben und zu senken. War die Brücke oben, bedeckte und beschützte sie das Tor, und die Herberge war von der Außenwelt abgeriegelt, eine Insel in einem kleinen See.
Derartige Herbergen können auch als Festungen dienen, wovon aber nur selten Gebrauch gemacht wird. Man kann sie als einfacher Reisender betreten und gegen Bezahlung dort übernachten. So gesehen stehen sie allen offen, obwohl es nicht ungewöhnlich ist, wenn sie in der Nacht verschlossen sind. Doch wie bereits erwähnt können sie als Festungen benutzt werden. Mehr als eine solche Herberge wurde in unzugänglichen Gegenden als Zufluchtsort vor marodierenden Soldaten oder Räuberbanden benutzt. Es ist auch schon vorgekommen, daß sie von den Überresten besiegter Truppen in Beschlag genommen wurden, als Ort, an dem man eine verzweifelte letzte Schlacht schlagen kann. In abgelegenen, unruhigen oder barbarischen Gegenden dienen solche Herbergen als Außenposten, als Festungen, von denen aus man die Umgebung befrieden kann. Innerhalb der Palisade gab es bestimmt Platz für mehrere Wagen. Ich konnte schlecht schätzen, wie viele es hier wären.
Außerdem gab es hier bestimmt irgendwo einen überdachten Tarnturm, allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, daß er jetzt beleuchtet war. Sie sind nicht nur ein Hinweis auf den Standort der Herberge und ihrer Annehmlichkeiten, sondern bieten auch eine sichere Annäherung, die nicht durch Tarndraht behindert wird. Natürlich steuert man den Vogel auf die linke Seite des Lichts. Von der Tradition her findet auf Gor der Verkehr auf der linken Seite statt. So ist der Schwertarm stets auf die Entgegenkommenden gerichtet – falls man Rechtshänder ist, aber das sind die meisten Goreaner.
Links vor der Brücke stand ein Wagen. Die hintere Plane war nach unten gezogen. Der Regen perlte von ihr ab. Unter dem Wagen hockte eine zusammengekrümmte kleine Gestalt, die ein Stück Segeltuch um Kopf und Schultern gelegt hatte. Im Wagen hielten sich vermutlich ein Mann und seine freie Gefährtin auf. Zweifellos war die Anwesenheit der kleinen Gestalt unter dem Wagen, die dort in der Kälte hockte, auf die Anwesenheit der freien Gefährtin im Wagen zurückzuführen, vorausgesetzt sie war nicht auf irgendeine Weise ungehorsam gewesen. Ich hatte keinerlei Zweifel, daß das Mädchen bei weitem schöner und anziehender als die freie Gefährtin war. Das sagte einem schon ihr Status. Freie Frauen hassen solche Individuen und versäumen nur wenige Gelegenheiten, sie leiden zu lassen. Ich fragte mich, ob der Bursche im Wagen das Mädchen bloß zu seinem Vergnügen gekauft hatte oder es als Möglichkeit betrachtete, seine Gefährtin zu ermuntern, sich in ihrer Beziehung etwas mehr zu bemühen. Falls der Plan Erfolg zeigte, war er in diesem Fall vielleicht so anständig, sich des Mädchens zu entledigen und sie auf einem Markt zu verkaufen.
Ich ging in die Hocke. Erst da sah ich die schwere Kette, die durch einen unter dem Wagen angebrachten Ring führte. Ein Ende verschwand zwischen den Falten des Segeltuchs, in Halshöhe, vermutlich mit einem Schloß an einem Kragen befestigt. Das andere Ende verschwand hinter der Gestalt, vermutlich um ihre überkreuzten Knöchel zu fesseln. Als sie meinen Blick spürte, kniete sie sich hin; die Hände kamen unter der Plane hervor, die Handflächen stützten sich auf den Kies, der Kopf senkte sich und deutete Gehorsam an.
»Oh!« stieß sie leise hervor, als ich das Segeltuch zurückschob. Auf allen vieren hockend blickte sie auf. Die Kette, die durch den Ring führte, war zweimal um ihren Hals geschlungen und dort mit einem Vorhängeschloß verschlossen. Sie diente ebenfalls dazu, die Knöchel zu fesseln, die wie erwartet überkreuzt und eng aneinandergekettet waren. So kann die Gefangene nicht laufen. Es ist allgemein üblich, Gefangene so zu fesseln, daß sie nicht aufstehen können. Das dient nicht nur der Sicherheit, sondern ist auch ein Symbol ihres rechtmäßigen Platzes. Unter dem Tuch war sie nackt und schön. Wie ich es mir gedacht hatte.
Sie schaute zu mir hoch. Ihr Körper wurde nun dem Regen ausgesetzt. Ihr Haar war schon naß; es war sehr dunkel und fiel ihr über die Schultern. Sie kniete nun auf dem Segeltuch, mit dem sie sich bedeckt hatte. Ich schob sie zurück und nahm ihre Hände. Sie waren klein, von wunderschöner Zartheit und weiblich. Außerdem waren sie kalt. Ich rieb sie eine Zeitlang. Dann legte ich sie zurück auf ihre Oberschenkel. Ich berührte ihren Körper, ganz zärtlich, verteilte den Regen auf ihrer Haut. Sie erbebte, Schultern und Brüste nun ganz feucht und glitschig vom Regen.
»Du bist hilflos«, sagte ich zu ihr. »Du wirst keinen Lärm machen.«
»Meine Knöchel sind aneinandergekettet«, flüsterte sie.
Ich legte sie auf den Rücken, etwas tiefer in den Schutz des Wagens. Die Kette glitt ein Stück durch den Ring über uns. Das Holz quietschte. Anscheinend bewegte sich dort oben jemand. Der Bursche, dem der Wagen gehörte, drehte sich vermutlich im Schlaf um oder wandte sich seiner Gefährtin zu. Aber dann wurde es wieder ruhig, es war nichts mehr zu hören bis auf den Wind, den Regen und das ferne Grollen des Donners.
Unsere Gesichter berührten sich fast. »Du bist eine Sklavin«, flüsterte ich.
Plötzlich blitzte es, Donner krachte ohrenbetäubend.