Von einem Minarett her begann nun sogar eine Männerstimme zum Gebet zu rufen, aber gleichzeitig ertönten Kirchenglocken zur Mittagsmesse. Und während sich auf der Straße die Anhänger des maurischen Propheten in den Staub warfen und im Gebet verharrten, liefen andere Menschen eilig in die Kirchen und verschwanden durch schmale, schattige Eingänge, die mit bodenlangen Rosenkränzen verhängt waren.
Henri fiel ein, was ihm ein junger Grande erzählt hatte. Gott hatte am vierten Schöpfungstag die Sonne geschaffen und sie dabei geradewegs über Toledo gestellt. Deshalb war die Stadt älter als die Erde. Henri musste in der Erinnerung über den offenkundigen Stolz des jungen iberischen Erzählers lächeln, denn er wusste auch, dass die Stadt der zwanzigtausend Juden ihren Namen vom hebräischen Wort Toledot, das hieß Geschlechterfolge, herleitete. Und die ersten Bewohner sollten Abgesandte des Königs Salomon gewesen sein.
Henri fragte einen weiteren Passanten, wo er die Synagoge und die Kabbala-Schule finden könne. Der dunkelhäutige Mann blickte ihn aus scharfen braunen Augen an und sagte: »Ihr meint die Jeschiva? An diesen Mauern entlang, durch dieses Tor dort, die Juderia beginnt gleich dahinter.«
Als Henri durch das Torgewölbe in die Juderia Mayor westlich der Kathedrale einritt, bemerkte er sofort die Veränderungen. Hier war es nicht nur noch enger, sondern es duftete verführerisch. Henri unterschied am Geruch Zimt, Koriander, Safranblüten und Wacholderbeeren, an der nächsten Ecke roch er Piroggen und gepökeltes Rindfleisch. Er sah Frauen, die Wasser aus den vielen Zisternen holten, andere kochten in großen Töpfen Fischsuppe oder buken Weizengries zu kleinen, ovalen Küchlein aus. An Tischen saßen Schreiber mit spitzen Judenhüten und tauchten ihre Federn in Tinte. Weiter hinten arbeiteten die Damasquinados, die mit feinen Graviersticheln Ornamente aus Goldfäden in Haushaltsgegenstände aus Metall inkrustierten. Die herumgehenden Männer hatten Barte, trugen Gebetsschals über ihrer schwarzen Kleidung, die unverschleierten Frauen waren in lang herabfallende Umhänge gekleidet, ihr Haar bedeckten bunte Tücher mit Fransen.
Henri sah das Portal der Schule sofort. Er ritt langsam darauf zu und genoss das friedliche Leben. Er hatte schon sehr lange nicht mehr das Gefühl gehabt, wie selbstverständlich an einem Ort zu sein. Und selbst die schreienden Männer, die sich vor dem Schulportal zu streiten schienen, störten dieses Bild nicht. Denn Henri wusste, es war das loschen, das sie betrieben, lediglich eine Art von spielerischem Zetern. Er hatte es selbst von seinem Gefährten Joshua ben Shimon gelernt.
Henri hoffte, dass er Joshua bald treffen würde. Der Freund wollte aus Cordoba anreisen, wo er nach ihrer Trennung auf Menorca mit dem Sarazenen Uthman ibn Umar alte Texte studierte. Der jüdische Zahlenmystiker wollte Henris Studium an der feschiva begleiten. Gewöhnlich war Joshua schneller als er. Henri freute sich, mit seinem treuen Gefährten in der kommenden Zeit zusammen zu sein.
Henri de Roslin klopfte sich den Staub von seiner Kleidung. Er stellte sein Pferd in einem Stall unter und beschloss, etwas zu essen. In einem Gasthof neben der Schule, der zur Straße hin offen war, bekam er gekochtes Rindfleisch mit Rosmarin und ohne Milch gebackenen Brotfladen, dazu trank er einen Becher klaren Wassers. Er fragte den Gastwirt, ob die Menschen in Toledo friedlich miteinander auskämen. Der Mann nickte.
»Zwar gibt es hin und wieder Streit. Und wenn die Bevölkerung einen Grund zum Feiern hatte und viel trank, dann gibt es Prügeleien unter den Volksschichten. Aber die Juden lässt man in Ruhe. Der letzte Pogrom liegt bereits fünfzig Jahre zurück, als die Christen kamen. Damals behaupteten sie, die Juden hätten ein Kind getötet und sein Blut bei ihrer Pessah-Feier getrunken.«
»Das behaupten sie auch in Frankreich. Dort hat man die jüdischen Familien vertrieben. Und erst in diesem Jahr dürfen sie wieder zurückkommen – wenn sie ihre alten Rechte und ihren ehemaligen Besitz und sogar ihre Gebetbücher zurückkaufen.«
»Man hört davon. Auch die Tempelherren sind ja in Frankreich grausam verfolgt worden.«
Henri wollte nicht darauf eingehen. Stattdessen fragte er: »Und die Mauren? Ich sah, dass ihre Moschee umgebaut wird.«
»Auch die Mauren haben ihr Auskommen. Sie haben eine Übersetzerschule bekommen, in der ihre Manuskripte von den besten Scribenten ins Lateinische und Kastilische übertragen werden. Außerdem besitzen sie noch genug Gotteshäuser. Und für Ungläubige beten sie erstaunlich häufig, das glaubt mir, jedenfalls mehr als die bekehrten Mauren, die Moriscos.«
»Wer leitet die Jeschiva?«
»Der Oberrabbiner natürlich. Dann gibt es noch einen deutschen Rabbiner. Und viele Unterrabbiner. Was wollt Ihr in der Schule?«
»Ich will die Geheimnisse der Kabbala studieren.«
»Aber Ihr seid ein erwachsener Mann! Wollt Ihr tatsächlich in engen, dunklen und schlecht gelüfteten Räumen die Schulbank drücken?«
»Man lernt nie aus, mein Freund!«
»Vielleicht wollt Ihr Euch vorher ein wenig ablenken? Ihr seid im besten Mannesalter. Abends erwachen hier die Straßen und Plätze im almohadischen Teil der Stadt. Dort gibt es Vergnügungen aller Art – und wunderschöne Mädchen!«
»Dazu bin ich nicht hier. Wenn es auch gut ist, zu wissen, dass Toledo eine Stadt ist, in der man fröhlich ist. Ich habe zu viele Städte gesehen, die den Tod in ihren Mauern hatten.«
Henri nahm sich ein Zimmer im Gasthof, von dem aus er über den Fluss blicken konnte. Die warme Luft war erfüllt von Stimmen und Musik. Henri beschloss, noch einen Gang durch Toledo zu machen, und genoss einmal mehr das bunte Treiben in den Gassen.
Die Geschichtsbücher erzählten, dass die Stadt ihre beste Zeit unter den christlichen westgotischen Herren erlebt hatte. Damals, bevor die Westgoten – Hetzer sagten gerne, aber falsch, es seien die Juden gewesen – die Muslime übers Meer ins Land riefen, um ihnen bei Thronstreitigkeiten beizustehen, war Toledo die herrlichste und reichste Stadt der Welt gewesen. Ihr König Reccared besaß den Tisch des Judenkönigs Salomon, der aus einem einzigen riesenhaften, von purem Gold eingefassten Diamanten bestand. Damals existierten angeblich auch noch Wunderspiegel, in denen man die ganze Welt erblicken konnte. Henri war nicht empfänglich für solche Sagen, aber das prächtige Toledo vermittelte ihm nun eine Ahnung davon, wie solche Phantastereien hatten entstehen können.
Bei Anbruch der Dunkelheit kehrte er in den Gasthof zurück, wo unten Betrunkene lärmten.
Er schlief unruhig. Immer wieder, wenn er erwachte, versuchte er sich zurechtzulegen, welche Erwartungen er mit der Kabbala-Schule verband. Konnten ihm die Lektionen dort wirklich helfen, seinen Feinden besser zu begegnen? Würden ihm die Lehren eine neue Waffe in die Hand geben, mit der er sich verteidigen konnte? Henri war gespannt, ob der deutsche Rabbiner in der Schule wirklich noch Theophil von Speyer war. Und in Gedanken tauchte er zurück in jene winterlich kalte Zeit, als er in der deutschen Stadt am Rhein dessen Gast gewesen war. Es war eine bedrohliche Zeit gewesen. Theophils Frau Alma war damals an den seelischen Folgen eines Attentatsversuches von Christen bald gestorben.